Am Tag als der Krieg ausbrach, hatte Hayk Geburtstag. Dieser Tag sollte ihm in Erinnerung bleiben, als jener Tag, an dem er 30 Jahre alt wurde. Stattdessen teilte der Krieg das Leben des Geigenspielers in zwei Hälften. In ein Leben vor Kriegsausbruch und in ein Leben danach.
Zum Zeitpunkt, als wir Hayk in einem Park vor dem Konservatorium in der armenischen Hauptstadt Jerewan treffen, ist er erst wenige Tage von der Front nach Hause zurückgekehrt. «Ich schätze das Leben heute mehr als früher. Jeder von uns, der an der Front stand, hatte Momente, in denen er dachte, es sei möglicherweise sein letzter.» Hayk zittert während des Interviews. Es ist nicht der Novemberwind, der ihn frieren lässt.
Vom Geiger zum Soldaten
Offiziell bestätigt sind über 2400 Todesopfer auf armenischer Seite, mehrere hundert Soldaten gelten noch als vermisst. Von Aserbaidschan werden keine Zahlen zu den Todesopfern publiziert, dies gilt im autokratisch regierten Land als militärisches Geheimnis. Auf beiden Seiten sind besonders junge Männer zwischen 18 und 20 Jahren umgekommen. «Es gibt keinen Menschen in Armenien, der nicht jemanden verloren hat in diesem Krieg», ist Hayk überzeugt. Er selbst meldete sich als Freiwilliger und tauschte sein Instrument gegen eine Waffe.
Von den vier Musikern des von ihm gegründeten Quartetts haben zwei an der Front gekämpft und von einer Musikerin ist der Bruder als Militärarzt im Einsatz gestorben. Er hinterlässt eine Frau und zwei kleine Kinder.
Von der Friedensaktivistin zur Militäringenieurin
Mit der friedlichen Revolution im Land vor zwei Jahren stieg besonders unter den jungen Menschen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Diese Hoffnungen wollen sich viele junge Menschen im Land, trotz aller Widrigkeiten, nicht nehmen lassen. Zu ihnen gehört auch Mariam Awagjan. Wäre kein Krieg ausgebrochen, würde sie an ihrer Doktorarbeit an der Columbia University in New York schreiben. Stattdessen ist sie seit Ende September pausenlos unterwegs, um Hilfsgüter an jene zu verteilen, die vom Krieg besonders betroffen sind.
«Ich musste dem Betreuer meiner Doktorarbeit und meinen Kommilitoninnen erst einmal erklären, dass meine Familie und ich in einem Kriegsgebiet leben und ich jeden Tag sterben könnte. Ich weiss gar nicht mehr, wie viele Leute gestorben sind, die ich kannte. Jeden Tag wachst du auf und hörst von einem weiteren Toten», erzählt sie auf dem Weg durch den Südosten Armeniens.
Nicht weit von der Grenze mit der Republik Berg-Karabach entfernt, liegt der Kurort Dschermuk, dessen Sanatorien zurzeit Geflüchtete aus der umkämpften Region beherbergen. Mariam organisiert zusammen mit anderen Armenierinnen Hilfsgüter-Transporte hierher, mit Nahrungsmitteln und Spielsachen für Kinder.
Dieser Krieg hat mich verändert.
Um diese Hilfe vor Ort leisten zu können, macht sie ein Semester Pause an der Universität. Der Krieg hat auch ihre Zukunft völlig auf den Kopf gestellt: «Ich war mein ganzes Leben lang überzeugte Pazifistin und habe Waffen gehasst. Dieser Krieg hat mich verändert. Ich überlege mir ernsthaft, für die armenische Armee zu arbeiten und mein Wissen als Ingenieurin dafür einzusetzen, Waffen zu entwickeln.» Denn es seien die Drohnen gewesen, die Aserbaidschan im Ausland eingekauft habe, mit denen am meisten Menschen getötet worden seien, sagt Awagjan.
Vom Kameramann zum Fluchthelfer
Viele junge Menschen in Armenien scheinen während des Krieges humanitäre Aufgaben ohne Zögern übernommen zu haben. Bevor der amtierende Premierminister Nikol Paschinjan durch demokratische Wahlen an die Macht kam, regierten Oligarchen und ihre Strohmänner das Land. Die Korruption hatte Armenien und die angrenzende Region Berg-Karabach bis ins Innerste zerfressen, und vom Staat konnten die Menschen nur wenig Hilfe in der Notsituation erwarten.
So organisierte Ararat Schabasajan, der eigentlich als Kameramann beim armenischen Fernsehen arbeitet, die Evakuation von mehreren tausend Zivilisten aus der Stadt Stepanakert auf eigene Faust.
Wochenlang fuhr er Menschen in seinem eigenen Auto in Sicherheit. «Die vielen Kinder, Frauen und Grosseltern zurückzulassen, auf der Strasse in Berg-Karabach – das wäre nichts für mich gewesen.»
Sein eigenes Engagement sei jedoch nichts im Vergleich zum Engagement von anderen: «Für jedes Problem kann eine Lösung gefunden werden. Für jedes. Aber die Männer, die im Krieg gestorben sind, die Männer kann man nicht mehr zurückholen.»