In Anzug und Krawatte. So hat die Nation Andrij Sadovyj bisher gekannt. Nun aber, beim Interviewtermin, trägt Lwiws langjähriger Bürgermeister einen tarnfarbenen Kapuzenpulli. Er ist – wie das ganze Land – im Kriegsmodus.
«Ich hatte ein Leben vor dem 24. Februar, und ich habe ein Leben nach dem 24. Februar», sagt Sadovyj in seinem Büro im ehrwürdigen Lwiwer Rathaus. Der 24. Februar: Das war der Tag, an dem Russland angegriffen hat. Mehrfach schon wurde die Region Lwiw seither mit Raketen beschossen. Im Vergleich zu anderen Städten ist es hier aber immer noch relativ sicher.
Früh vorgesorgt
Sadovyj sagt, er habe seine Stadt schon Monate vor Kriegsausbruch auf eine solche Krise vorbereitet: So seien zum Beispiel viele Dieselgeneratoren gekauft worden, um die Wasserversorgung auch bei einem Stromausfall sicherstellen zu können. Auch seien riesige Mengen an Medikamenten und anderen Gütern besorgt worden.
Das Wichtigste aber, sagt Sadovyj, der im Interview mal Englisch, mal Ukrainisch spricht: «Wir haben die Barriere im Kopf entfernt. Wer ein gutes Leben hat, der hat Mühe, sich auf eine Extremsituation vorzubereiten. Wir taten es.»
Wer ein gutes Leben hat, der hat Mühe, sich auf eine Extremsituation vorzubereiten. Wir taten es.
Die Geschichte von Lwiw ist geprägt von Konflikten mit Grossmächten: Die Habsburger haben hier Schlachten geführt, die Deutschen und natürlich die Russen. Lwiw ist auch eine Hochburg des ukrainischen Patriotismus, als «Seele der Ukraine» sieht sich die Stadt selbst.
200'000 Flüchtlinge kamen bisher an
Die Infrastruktur der Stadt funktioniere auch jetzt, in Kriegszeiten, betont der Bürgermeister. Man habe 200'000 Flüchtlinge aus anderen Landesteilen aufgenommen, viele davon seien privat untergekommen: «Die Menschen in unserer Stadt haben haben ihre Herzen und Türen geöffnet.»
Es schwingt Stolz mit, wenn Sadovyj davon spricht, was sein Lwiw leistet in diesen düsteren Tagen. Weniger begeistert ist der Bürgermeister allerdings von der internationalen Gemeinschaft: «Wir haben seit über einem Monat Krieg – und die grossen internationalen humanitären Organisationen sind bisher nirgends zu sehen. Vielleicht helfen sie irgendwo – in Lwiw jedenfalls nicht.»
Kritik an ungenügenden Sanktionen
Der Bürgermeister fühlt sich allein gelassen. Auch die westlichen Sanktionen gegen Russland, den Aggressor, hält er für ungenügend: Russland führe Krieg und erhält trotzdem vom Westen jeden Tag eine Milliarde Euro für Öl, Gas, Metalle: «Wie kann man da von Sanktionen reden?»
Sadovyj ist mit dieser Haltung nicht allein: Viele ukrainische Politiker verlangen, dass die Europäer härter gegen Russland vorgehen, um die Aggression zu stoppen. «Die Welt muss sich entscheiden, was wichtiger ist: Freiheit oder Geld. Wir haben unsere Wahl getroffen.»
Die Welt muss sich entscheiden, was wichtiger ist: Freiheit oder Geld. Wir haben unsere Wahl getroffen.
Die Ukrainer kämpfen tapfer gegen die russischen Invasoren. Vor Kiew und auch im Süden haben sie den russischen Angriff zum Stehen gebracht. Im Hinterland hält Bürgermeister Sadovyj die Stellung und zeigt sich unerschütterlich optimistisch: «Ich bin ein grosser Optimist und glaube an unseren Sieg.»