Der russische Angriff am Sonntag hat einem Truppenübungsplatz unweit von Lwiw (Lemberg) gegolten. Mehrere Dutzend Menschen starben. Bisher galt die Stadt als vergleichsweise sicher. Hierher sind Zehntausende aus den umkämpften Gebieten geflüchtet. In Lwiw halten sich auch zahlreiche Medienschaffende auf, darunter Björn Blaschke von der ARD.
SRF News: Wie haben Sie den Raketenangriff am Sonntag erlebt?
Björn Blaschke: Ich habe ihn verschlafen. Ich bin erst aufgewacht, als es am frühen Morgen einen Luftalarm gab. Aber ich habe nichts von den Raketen gehört. Ich habe es erst am späteren Morgen mitbekommen, als wir aufbrechen wollten. Das war natürlich schlimm, weil es hiess, dass es mehr als 30 Tote gegeben haben soll und mehr als 130 zum Teil Schwerverletzte. Die Stimmung in der Stadt war angespannt, die Leute nervös. Panik herrschte aber keine. Eigentlich war alles ruhig, nur eben angespannt.
Befürchtet man weitere Angriffe?
Möglicherweise weitere Luftangriffe, ja. Russland will offenbar den Druck am Verhandlungstisch erhöhen. Wann immer in einem Krieg verhandelt wird, wird zugleich der militärische Druck verstärkt, um die andere Seite zum Einlenken zu bringen. Ich glaube aber nicht, dass man hierher mit Bodentruppen vorrücken wird. Jedenfalls nicht so bald. Derzeit werden schon relativ viele Städte wie Mariupol und Kiew belagert. Das bindet Truppen und bedeutet, dass sie nicht vorrücken können.
Lwiw galt als relativ sicher. Ist es vorbei mit dem sicheren Gefühl?
Ich glaube, so ganz sicher hat sich hier niemand gefühlt. Viele sind hierhergekommen, aber viele haben eben auch von vornherein gesagt, dass sie weiterziehen wollen. Ich habe auch Stimmen vernommen, die sagen, wenn das so weitergeht, dann gehen auch wir. Dann ist es uns in der Ukraine zu unsicher. Aber bisher kann ich eigentlich nur vermelden, dass in Lwiw ein unglaublicher Durchhaltewillen vorhanden ist.
Leute sagten: Wir wollen in einer Viertelstunde lernen, wie man eine Kalaschnikow bedient – sollte es doch dazu kommen, dass Lwiw eingekreist wird.
Die Leute sind bereit, zu kämpfen. Auch ich war bei einem Kalaschnikow-Schnellkurs. Die Teilnehmer sagten: Wir wollen in einer Viertelstunde lernen, wie man eine Kalaschnikow bedient, damit wir uns verteidigen können – sollte es doch dazu kommen, dass Lwiw eingekreist wird.
Durch die Region um Lwiw kommen Waffen- und Hilfslieferungen. Sind diese jetzt angesichts der drohenden Luftschläge in Gefahr?
Ich habe nicht davon gehört, dass die Leute davor zurückschrecken, hierherzukommen. Das gilt für Nichtregierungsorganisationen wie auch für Private. Ich bin selbst mit einem jungen Mann in die Ukraine gefahren, der jeden Tag ein- bis zweimal aus Polen nach Lwiw fährt, um sein Auto mit Leuten vollzuladen und sie aus dem Land zubringen. Und auch dieser Mann sagt, er werde damit weitermachen. Das halte ihn nicht davon ab.
Der angegriffene Übungsplatz liegt nur 15 Kilometer vom EU- und Nato-Land Polen weg. Spürt man die politische Komponente in Lwiw?
Man spürt auf jeden Fall, dass die Nato nicht allzu viel tut. Es ertönt immer wieder die Forderung, sie solle eine Flugverbotszone einrichten. Die Nato hat das wiederholt abgelehnt. Auch der Forderung nach schwereren Offensivwaffen wird nicht nachgekommen. Insofern fühlt man sich hier wie ein Puffer zwischen Russland und der EU. Das hat eine gewisse Verzweiflung zur Folge. Aber das stärkt auch den Kampfgeist. Die Leute hier sagen: Wir werden kämpfen, wir wollen einfach unabhängig und frei bleiben, auch wenn wir damit alleine dastehen.
Das Gespräch führte Isabelle Maissen.