Die russische Armee hat nach Angaben aus Kiew den erwarteten Grossangriff im Osten der Ukraine gestartet. Präsident Wolodimir Selenski sagte in einer Videobotschaft: «Wir können jetzt feststellen, dass die russischen Truppen die Schlacht um den Donbass begonnen haben, auf die sie sich seit langem vorbereitet haben.»
Auch der Generalstab in Kiew hatte von «Anzeichen» einer Offensive berichtet. Von russischer Seite gab es dazu keine Bestätigung.
Selenski spricht von «strategischem Unsinn»
Selenski zufolge ist «ein sehr grosser Teil» der russischen Armee für die Offensive im Osten konzentriert. Die Ukraine werde sich dem entgegenstellen. «Ganz gleich, wie viele russische Truppen dorthin getrieben werden: Wir werden kämpfen», versicherte der Präsident.
Egal, gegen wie viele russische Truppen: Wir werden kämpfen.
Man werde sich verteidigen und nichts aufgeben. Kein Raketenangriff habe die Situation für Russland grundlegend verbessert, meinte Selenski. «Und wenn wir sie alle zusammen bewerten, kommen wir zu dem Schluss, dass sie strategischer Unsinn sind.»
Es stehen harte Kämpfe bevor
Benno Zogg vom Zentrum für Sicherheitsstudien an der ETH Zürich rechnet mit einem harten, zähen Kriegsverlauf in nächster Zeit. «Das wird kein einfacher Vorstoss für Russland.»
Die russische Armee werde wahrscheinlich alles, was ihr zur Verfügung stehe, einsetzen. «Das wird wahrscheinlich wochenlang sehr, sehr blutig werden und kaum schnelle Vorstösse für Russland mit sich bringen.»
Dabei sei für die ukrainischen Kräfte «absolut zentral», dass ihre Truppen nicht von den Russen eingekesselt werden. «Sonst können sie nicht mehr mit Munition und mit schwerem Gerät versorgt werden», so Zogg.
Das wird wahrscheinlich wochenlang sehr, sehr blutig werden.
Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar habe es an dieser Grenze zu den ukrainischen Separatistengebieten um Luhansk und Donezk kaum Gebietsgewinne für die Russen gegeben.
«Die ukrainischen Truppen haben starken Widerstand geleistet und ihre Linien halten können.» Dort hätten sich wohl einige der kampferprobtesten Teile der ukrainischen Armee eingegraben.
Mariupol wird bombardiert
Doch nicht nur im Osten der Ukraine intensivieren sich jetzt die Kämpfe, auch die grösstenteils zerstörte Küstenstadt Mariupol im Südosten steht unter noch stärkerem Beschuss der Russen.
Noch immer leisten dort bis zu 2500 ukrainische Kräfte Widerstand, sie sind offenbar im Stahlwerk-Komplex Asowstal eingekesselt. Ihr Kommandant sagte in einer Videobotschaft, das Gelände des Werks werde von russischen Truppen mit Artillerie, bunkerbrechenden Bomben und Raketen angegriffen.
Dazu ETH-Experte Zogg: «Das Gelände ist eine Kleinstadt innerhalb einer Stadt, wo sich unter Trümmern in den Industrieanlagen die letzten ukrainischen Kräfte versammelt haben.» Sie seien schon lange von jeglichem Nachschub abgeschnitten, ihnen gingen Nahrung und Munition aus.
Auf dem Werksgelände befinden sich offenbar auch Zivilisten. Für sie forderte der ukrainische Kommandant einen eigenen humanitären Korridor, damit sie Mariupol verlassen könnten.
Mariupol strategisch und symbolisch wichtig
Für die Russen ist Mariupol strategisch extrem wichtig: «Mariupol ist sozusagen der letzte Fleck, der am Asowschen Meer von den Ukrainern gehalten wird», sagt ETH-Experte Zogg. Dies verhindere, dass die Russen die ganze Region zwischen der Krim und dem Donbass kontrollieren.
«Weil das kleine Gebiet noch ukrainisch gehalten wird, bindet das auch enorme russische Kräfte», so Zogg. Deshalb versuche Russland jetzt durch ein Flächenbombardement, die ukrainischen Kräfte zu vernichten und das Gebiet einzunehmen.
Und: «Weil die Stadt seit eineinhalb Monaten belagert wird, ist sie auch von hohem symbolischen Wert für Russland», so Zogg.