Spätestens seitdem die Ukraine Awdijiwka an die Russen verloren hat, befindet sich das Land in der Defensive. Der Westen hat Mühe, ausreichend Munition und Waffen zu liefern. Ist die westliche Doppelstrategie aus Waffenlieferungen und Russland-Sanktionen gescheitert? Antworten hat der Militärexperte Wolfgang Richter.
SRF News: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski will die Luftabwehr ausbauen. Was kann die Ukraine in diesem Bereich tun?
Wolfgang Richter: Es gibt zwei Wege: Die Ukraine muss die eigene Waffenindustrie wieder stärken. Früher wurde ein Drittel der sowjetischen Rüstungsgüter auf dem Gebiet der Ukraine produziert. Trotz eines Rückgangs der Waffenproduktion in den vergangenen Jahrzehnten hatte die Ukraine vor dem Einmarsch der Russen immerhin noch eine recht potente Rüstungsindustrie. Inwiefern diese jetzt allerdings noch produzieren kann, ist unklar. Der andere Weg sind weitere Lieferungen von Flugabwehrsystemen und vor allem passender Munition aus dem Westen.
Selenski hätte auch gerne Taurus-Marschflugkörper. Welchen militärischen Nutzen hätten die?
Taurus ist geeignet, auf Distanzen von bis zu 500 km treffsicher und zuverlässig gehärtete Ziele wie Bunker oder Brückenpfeiler zu zerstören. Die Ukraine könnte damit also beispielsweise weit entfernte unterirdische Munitionsdepots oder Flugzeuge in Unterständen angreifen.
Olaf Scholz will verhindern, dass Deutschland in den Krieg hineingezogen wird.
Die Präzision des Taurus, kombiniert mit der Reichweite, produziert aber auch Risiken: Damit könnten auch Ziele tief im russischen Kernland angegriffen werden – und hier liegen in der Tat Eskalationsrisiken. Deshalb will der deutsche Kanzler Olaf Scholz denn auch keine Taurus an die Ukraine liefern. Er will verhindern, dass Deutschland in den Krieg hineingezogen wird.
Wie sieht die Lage an der Kriegsfront aus?
Die Gegenoffensive der Ukraine ist letzten Sommer trotz der grossen Lieferungen aus dem Westen – 1500 gepanzerte Fahrzeuge aller Art und mehrere Hundert Artilleriegeschütze – gescheitert. Man hätte dabei im Westen erkennen müssen, dass der Ressourcenvergleich nicht zu Gunsten der Ukraine ausfällt. Das hat sich inzwischen dadurch verschärft, dass die USA die Waffenlieferungen eingestellt haben. Und da stellt sich die Frage, ob die Europäer bereit und ökonomisch in der Lage wären, diese Lücke zu schliessen.
Ist Europa dazu in der Lage?
Man kann eine freie Marktwirtschaft nicht einfach auf Kriegsproduktion umstellen. Und wir haben die ökonomischen und politischen Risiken der Doppelstrategie – Waffenlieferungen an die Ukraine und Sanktionen gegen Russland – unterschätzt. Das sollte uns zu denken geben.
Trotz der Risiken halten wir an der möglicherweise unrealistischen Siegrhetorik fest.
Die Strategie des Westens war, im Nebel des Krieges auf Sicht zu fahren – doch die Risikoabschätzung hätte anders ausfallen müssen. Jetzt stehen wir vor diesen Risiken – den Wahlen in den USA, dem ökonomische Risiko in Europa. Und trotzdem halten wir an der möglicherweise unrealistischen Siegrhetorik fest.
Ist die Eroberung Awdijiwkas durch die Russen also erst der Anfang?
Ich glaube ja – auch wenn die ukrainischen Verteidigungslinien nach dem Verlust Awdijiwkas nicht völlig gebrochen sind. Doch die Ukrainer waren in einer prekären Lage. Sie hatten ihre rückwärtigen Verteidigungsanlagen nicht genügend ausbauen können, und es bestand die Gefahr, dass die Russen die Ukrainer überrennen. Doch offenbar fehlten den Russen dafür dann doch die militärischen Kräfte. Doch die Lage bleibt prekär für die Ukrainer und sie werden womöglich weitere Ortschaften verlieren.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.