Bald ist ein Monat vergangen, seit Russland in der Ukraine eingefallen ist. Trotz ihrer offenbaren Übermacht ist es der russischen Armee bisher nicht gelungen, eine grössere ukrainische Stadt einzunehmen. Georg Häsler ist Militärexperte der «Neuen Zürcher Zeitung» und Oberstleutnant im Heeresstab der Schweizer Armee. Er sagt, was aus Sicht der russischen Streitkräfte zurzeit falsch laufe.
SRF News: Wieso kommen die Russen aus ihrer Sicht militärisch nicht voran?
Georg Häsler: Es mag zynisch klingen, aber die Russen setzen zurzeit noch auf die Karte Nadelstiche. Sie gehen nicht mit der vollen Kraft voran, die sie bräuchten, um eine Stadt zu erobern, die eben Widerstand leistet. Widerstand leistet einerseits die ukrainische Armee, die sehr gut positioniert ist, und auch die Zivilbevölkerung leistet Widerstand. Deshalb geht es für die Russen nicht voran. Sie bräuchten sehr viel mehr Kraft und es bräuchte sehr viel mehr Zerstörung, um diese Städte einzunehmen. Doch dieser Paradigmenwechsel scheint sich jetzt abzuzeichnen.
Woran zeigt sich dieser Paradigmenwechsel?
Es sind in der letzten Zeit sehr viel mehr Raketeneinschläge und Artilleriebeschüsse gemeldet worden. Auch diese sogenannte Wunderwaffe, diese Hyper-Sonic-Waffe, wurde eingesetzt. Es sieht so aus, als würde Russland jetzt voll auf die Karte Feuerwalze setzen.
Man muss sich im Klaren sein: Die russischen Truppen sind vorangekommen, sie haben ihre Vorstösse immer machen können.
Immer wieder war die Rede davon, dass Russland Mühe hat mit dem Nachschub für die eigenen Streitkräfte. Wie ist die Situation?
Ganz generell ist die Nachrichtenlage sehr dünn. Es sind vor allem westliche Quellen, die darüber berichten. Das wird auch gemacht, um im Informationskrieg zu zeigen, dass die russische Armee schwächer unterwegs ist, als man glaubt. Es ist aber tatsächlich so, dass gewisse Dinge unaufgeräumt erscheinen, zum Beispiel hat man Bilder von Panzern gesehen, die liegengeblieben sind, weil sie zu wenig Treibstoff hatten. Aber man muss sich im Klaren sein: Die russischen Truppen sind vorangekommen, sie haben ihre Vorstösse immer machen können.
Die russischen Streitkräfte scheinen Probleme mit der Kommunikation zu haben. Es werden immer wieder auch Nachrichten abgefangen. Woran liegt das?
Das ist eine grosse Überraschung, weil neben der Luftüberlegenheit die Kommunikationsüberlegenheit heute eine der wichtigsten Faktoren ist, um militärisch erfolgreich zu sein.
Man hört Berichte, wonach die russische Armee mit Walkie-Talkies unterwegs sei.
Das scheint bei den Russen nicht der Fall zu sein. Die Fahrzeuge sind zwar mit den entsprechenden Antennen ausgerüstet, aber man hört Berichte, wonach die russische Armee mit Walkie-Talkies unterwegs sei. Man hat auch entsprechende Funksprüche abgehört. Es wird auch mit dem Telefon gearbeitet. Das ist nicht so, wie eine moderne Armee unterwegs sein sollte.
Die ukrainische Armee verzögert, sie sperrt, sie hält, sie verteidigt.
Die ukrainische Armee konnte den russischen Vormarsch bisher vielerorts verhindern. Können die ukrainischen Truppen die Russen auch zurückschlagen und so den Ausgang entscheidend beeinflussen?
Die ukrainische Armee hat in der Tat bisher viel dazu beigetragen, dass der russische Vorstoss nicht so schnell vorangekommen ist wie wahrscheinlich geplant. Sie verzögert, sie sperrt, sie hält, sie verteidigt. Aber die ukrainische Armee kann keine effizienten Gegenangriffe machen.
Vereinzelt gibt es das, doch fehlt der ukrainischen Armee schlicht das Potenzial, um mit Panzern und mit Kampfflugzeugen effektive Gegenangriffe zu lancieren und den Gegner entsprechend zu zerschlagen. Sie kann keine Entscheidungen herbeiführen, um Gelände zurückzugewinnen.
Das Gespräch führte Tobias Bühlmann.