Entgegen seinen Ankündigungen, Truppen von der ukrainischen Grenze abzuziehen, hat der russische Präsident letzte Nacht einen Angriffskrieg gestartet. Auslandredaktor David Nauer über Putins Denkweise und seine Absichten.
SRF News: Wie begründet Wladimir Putin diesen Angriff?
David Nauer: Formalistisch. Einerseits dadurch, dass er sagt, Russland sei von den Separatistenrepubliken in der Ostukraine um Hilfe gerufen worden. Es geht da formal um Bruderhilfe für verbündete Republiken. Das ist für Putin wichtig, dass formalistisch einen Grund vorgeben kann. Politisch sagt er, es gehe darum, die Menschen in der Ukraine vor dem Regime in Kiew zu retten. So bezeichnet Putin die demokratisch gewählte ukrainische Regierung.
Putin beschuldigt die ukrainische Führung, einen Genozid am eigenen Volk zu verüben. Diesen wolle Russland stoppen.
Weiter argumentiert er dann ziemlich wild. Er beschuldigt die ukrainische Führung, einen Genozid am eigenen Volk zu verüben. Diesen wolle Russland stoppen, es brauche eine Entnazifizierung in der Ukraine. Solche radikalen Dinge sagt Putin. Darüber hinaus stellt er den Angriff als russische Selbstverteidigung dar, weil sich die Ukraine geopolitisch gegen Russland gewendet habe. Und das müsse unterbunden werden.
Putin sieht sich als Friedensbringer für die Ukraine. Die Weltgemeinschaft allerdings ist sich einig, dass er der Aggressor ist. Woher kommt diese komplett unterschiedliche Wahrnehmung?
Es ist eine unselige Tradition, muss man sagen, dass Aggressoren, Diktatoren, ihre Angriffskriege, ihre Aggressionen immer als Selbstverteidigung darstellen. Es gibt in der Geschichte zahlreiche entsprechende Beispiele. Bei Putin kommt aber noch dazu, dass ich bei ihm eine Radikalisierung beobachte. Er hat sich in letzter Zeit auf die Ukraine eingeschossen. Er wird sehr emotional bei diesem Thema. Man hat das Gefühl, dass er das Mass verliert, wenn er über die Ukraine redet. Da ist viel Ressentiment zu spüren, auch so ein bisschen Enttäuschung, dass sich die Ukraine von Russland abgewendet hat. Man hat den Eindruck, er wähne sich auf einer historischen Mission. Ist ja 20 Jahre an der Macht und hat seit 20 Jahren nur Leute um sich, die ihm sagen, dass er alles richtig mache und wie grossartig er sei.
Putin war während der Pandemie völlig isoliert, hatte nur Leute aus dem Sicherheitsapparat um sich. Offenbar hat er da solche Ziele entwickelt und will sie umsetzen.
Jetzt glaubt er wohl, dass er die Ukraine ins russische Einflussgebiet zurückholen muss, das ist seine Mission. Dieser Tunnelblick von Putin hat sich in den letzten Jahren noch verschärft. Er war während der Pandemie völlig isoliert, hatte nur Leute aus dem Sicherheitsapparat um sich. Offenbar hat er da solche Ziele entwickelt und will sie umsetzen.
Und heute früh fragt sich die Welt, was kommt da noch?
Ja, das frage ich mich auch. Man hat das Gefühl, das Kriegsziel der Russen ist es, wie es aussieht, die ukrainische Regierung zu stürzen. Sie greifen offenbar vom Norden an, von Süden, vom Osten. Es gibt Szenarien, dass die Hälfte der Ukraine, die östlich des Flusses Dnepr liegt, inklusive der Stadt Kiew eingenommen werden soll. Militärisch könnte es sein, dass es jetzt auf das hinausläuft.
Jede Regierung von Moskaus Gnaden wird von der ukrainischen Bevölkerung als Besatzungsregime wahrgenommen werden.
Dann müsste die Regierung in Kiew abtreten. Putin will wohl ein prorussisches Regime einsetzen. Wie das aber funktionieren soll, ist komplett unklar, weil Russland spätestens heute Nacht die Ukraine komplett verloren hat. Jede Regierung von Moskaus Gnaden wird von der ukrainischen Bevölkerung als Besatzungsregime wahrgenommen werden. Also wo das alles hinführen soll, ist schwer zu sagen.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.