Als Russland die Ukraine angriff, reagierte der Westen mit beispiellosen Sanktionen. Doch obwohl die Geschäftsbeziehungen mit Russland praktisch über Nacht weitgehend lahmgelegt wurden, scheint es dem Land wirtschaftlich nicht schlecht zu gehen. Die Versorgung scheint zu funktionieren, der Rubel ist stärker als vor dem Krieg, und der Kreml wird nicht müde zu betonen, die Wirtschaft laufe trotz Sanktionen gut. Janis Kluge, Experte für russische Wirtschaft, stellt ein dickes Fragezeichen hinter die russischen Verlautbarungen.
SRF News: Geht es der russischen Wirtschaft besser, als man das aufgrund der Sanktionen erwarten könnte?
Janis Kluge: In Russland können die Folgen der Sanktionen nicht offen diskutiert werden. Das trägt dazu bei, dass wir viele der Auswirkungen nicht wahrnehmen und oft nur das hören, was Putin selbst dazu sagt. Und das ist beschönigt. Tatsächlich ist die russische Wirtschaft in einer tiefen Krise. Das Bruttoinlandsprodukt ist seit Februar um sechs Prozent gefallen. Auch der Privatkonsum ist eingebrochen. Es sind also deutliche Bremsspuren zu sehen. Die meisten Experten rechnen damit, dass das Bruttoinlandsprodukt bis zum Jahresende um bis zu zehn Prozent einbrechen wird.
Wie stark lebt die russische Wirtschaft vom Gas und Öl, die nach wie vor in den Westen geliefert werden?
Das Öl spielt wie schon seit Jahren die grösste Rolle. Der Ölexport geht relativ unvermindert weiter, auch wenn es zu Beginn des Kriegs einen leichten Rückgang gab. Auch muss Russland günstigere Ölpreise in Kauf nehmen, weil viele Staaten nicht mehr mit ihm Handel treiben möchten. Aktuell nimmt es pro Fass Öl weniger ein als vor dem Krieg.
Aus dem Westen wird kaum noch etwas nach Russland geliefert. Trotzdem liest man, dass Russinnen und Russen im Alltag nach wie vor vieles kaufen können.
Es wurden gar nicht so viele Konsumgüter sanktioniert. Es betrifft vor allem Luxusgüter. Die Lieferung von Nahrungsmitteln oder Medikamenten ist beispielsweise nicht betroffen. Hier gab es teilweise eine Zunahme von Exporten nach Beginn des Krieges, so etwa aus Deutschland. Aber es gibt Parallelimporte. Westliche Güter kommen ohne Einverständnis der Hersteller über Drittländer wie Kasachstan oder die Türkei nach Russland.
Die russische Wirtschaft ist in einer tiefen Krise.
Doch damit gehen neue Probleme einher. Es besteht keine Garantie dafür, dass diese Produkte funktionieren oder Hygienestandards entsprechen. Es gibt auch viele Fälschungen. Die Parallelimporte sind kein vollwertiger Ersatz. Zu einem gewissen Mass können sie aber dazu führen, dass westliche Güter für russische Konsumenten verfügbar bleiben.
Wie arbeitet die russische Industrie, der gewisse Zulieferteile aus dem Ausland fehlen.
Am härtesten hat es die Automobilindustrie getroffen. Ein grosser Teil war in den Händen europäischer Produzenten und die Lieferketten waren stark internationalisiert. Die Industrie steht fast komplett still. Schon im Mai wurden fast keine Autos mehr in Russland produziert. Andere Industrien wie die Produktion von Erdöl laufen relativ unbeeindruckt weiter.
Die verschiedenen Sektoren der russischen Industrie sind unterschiedlich stark von westlichen Komponenten abhängig. Auch sind gewisse Zulieferteile noch in Lagern vorrätig, was die Wirkung der Sanktionen verzögert. Der Einbruch in bestimmten Bereichen der Industrie wird sich aber auf andere Bereiche der Wirtschaft ausbreiten. Denn die Nachfrage der nachgelagerten Industrien und die Kaufkraft der Konsumenten gehen zurück.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.