Normalerweise drängen sich im Foyer des Les-Kurbas-Theaters von Lwiw intellektuelle Theaterbesucher. Jetzt sitzt ein Mann am schwarzen Klavier bei den roten Samtverhängen und spielt – ganz versunken in seine Melodien. Er ist vor dem Krieg und der russischen Armee geflohen, wie die meisten hier.
Statt der Publikumsstühle stehen im Parkett des grossen ovalen Theatersaals jetzt Betten. Von einem dieser Betten erhebt sich Tatjana Hrizinina. Die Rentnerin stammt aus der Nähe des umkämpften Mariupol im Südosten der Ukraine. Sie ist mit Tochter und Enkelin im Theater untergekommen.
Hoffen auf Weiterreise nach Grossbritannien
«Wir haben Freunde in Grossbritannien, sie wollen uns helfen, ein Visum zu bekommen. Wenn es klappt, fahren wir hin. Sonst müssen wir weiterschauen. Nach Hause können wir nicht – das Kind kann ja nicht unter Beschuss leben», erzählt sie.
Der russische Angriff hat zehn Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer zu Flüchtlingen gemacht. Lwiw, eine Stadt mit 700'000 Einwohnerinnen und Einwohnern, hat 200'000 von ihnen aufgenommen. Jede Sporthalle, jede Schule, jedes Hotel und eben auch das Les-Kurbas-Theater sind zur Notunterkunft geworden.
Freiwillige packen mit an
Getragen wird diese ungeheure Anstrengung von vielen Freiwilligen. Diese leisteten grossartige Arbeit, sagt die aus Mariupol geflüchtete Rentnerin Hrizinina. «Alles ist bestens organisiert, es gibt genug zu essen und wir haben sogar einen guten Bombenkeller.»
Zentrum der humanitären Hilfe in Lwiw ist das «Haus der Kultur», ein Veranstaltungs- und Ausstellungsort. Hier stehen Dutzende, manchmal Hunderte Flüchtlinge an, weil sie Essen brauchen, Medikamente, Babywindeln oder eine warme Decke.
Menschen aus der ganzen Ukraine
«Die Leute kommen aus Kiew, aus Charkiw, aus Tschernihiw. Aus allen Teilen der Ukraine», sagt Tetjana, eine junge Freiwillige. Sie versucht, irgendwie Ordnung in das Chaos zu bringen.
Die ersten zwei Tage des Krieges sei sie wie gelähmt gewesen. «Dann sagte ich: Ok, jetzt will ich arbeiten.» Seither sei sie jeden Tag viele Stunden hier. «Meine Kinder haben wohl schon vergessen, wie ich aussehe.» Aber sie wolle tun, was sie könne, um zu helfen.
Die Not ist gross. Zwei Frauen, beide gegen 80, stehen für Medikamente an. Sie sind aus dem zerbombten Severodonezk im Donbass geflohen. Lisa stammt aus dem russisch besetzen Melitopol. Sie holt im Haus der Kultur Babynahrung und Windeln für ihr Bübchen Makar. Zwei Monate alt ist der Säugling.
Im Krieg rücken alle zusammen
Die Hilfslieferungen kommen aus dem Ausland, vor allem aus Europa. Aber auch Firmen aus Lwiw oder einfache Bürger bringen vorbei, was sie entbehren können. Der Krieg hat eine ungeheure Solidarität ausgelöst in der Ukraine.
«Es sind harte Zeiten, aber es ist auch schön zu spüren, dass wir alle zusammengehören. Immer wieder umarme ich wildfremde Leute, Helfer, Geflohene. Wir schauen uns in die Augen und verstehen uns. Wir haben denselben Herzschlag» ,sagt Helferin Tetjana.
Es sind harte Zeiten, aber es ist auch schön zu spüren, dass wir alle zusammengehören.
Aus diesem Gefühl, gemeinsam füreinander einzustehen und das Land zu verteidigen, erwächst auch ein bemerkenswerter Optimismus, den man vielerorts spürt in der Ukraine, auch bei Tetjana: «Alles wird gut werden. Wir alle sind sicher, wir werden diesen Krieg gewinnen.»