Immer mehr Waffen für die Ukraine sei der falsche Weg, sagt der Philosoph Olaf Müller. Er plädiert für einen pragmatischen Pazifismus, selbst jetzt.
SRF News: Sie haben sich entschieden, dem Impuls zu widerstehen, der angegriffenen Ukraine mit Waffenlieferungen zu helfen. Warum?
Olaf Müller: Der Impuls überkommt fast jeden anständigen Menschen – in dem Sinne, dass dem Angegriffenen im Krieg geholfen werden müsse. Es gibt aber auch Aspekte, die gegen Waffenlieferungen sprechen.
Es könnte eine so starke Eskalation in Gang kommen, an deren Ende Europa in Schutt und Asche liegt.
So gibt es präzise Befürchtungen, dass eine so starke Eskalation in Gang kommen könne, an deren Ende Europa in Schutt und Asche liegt. Das muss man vermeiden.
Der Westen sollte die Ukraine also militärisch im Stich lassen?
Das ist der bittere Teil, den ich mir nur unter grössten Schwierigkeiten eingestehen konnte. Denn es klingt irgendwie falsch, jemanden im Stich zu lassen.
Irgendwie klingt es falsch, jemanden im Stich zu lassen.
Wenn allerdings die Gefahr zu gross wird, dass etwas noch viel Schlimmeres passiert, dann kann man nichts anderes tun, als einen Fehler zu begehen. Dieser bestünde im vorliegenden Fall darin, jemanden im Stich zu lassen – dafür würde man ein riesiges Risiko für die Menschheit vermeiden.
Sie sprechen die atomare Eskalation an.
Genau. Wenn die Russen dank der westlichen Waffenlieferungen immer stärker in Bedrängnis geraten, könnten sie womöglich im Gefecht eine kleine, taktische Atombombe einsetzen. Kommt es wirklich dazu, wird das nicht die letzte Atomwaffe gewesen sein, die in einem Krieg eingesetzt wird. Es besteht also die Gefahr, dass ein Tabu gebrochen wird und zu einer Welt führt, in der wir nicht leben möchten.
Die Ukraine muss sich also von Russland besetzen lassen, damit das Atombomben-Tabu nicht gebrochen wird?
Zuerst: Niemand kann wissen, ob es wirklich zu einem Atombombeneinsatz kommt, doch diese Sorge ist nicht aus der Luft gegriffen. Das führt dazu, bittererweise sagen zu müssen, dass die entsetzliche Fremdbestimmung durch ein anderes Land das kleinere Übel wäre im Vergleich zur riesigen Gefahr, die ich befürchte.
Würden Sie auch so argumentieren, wenn Sie statt in Berlin in Kiew oder Mariupol lehren würden?
Wenn ich direkt betroffen wäre, hätte ich schon lange vorher dafür plädiert zu kapitulieren – weil ich mein Land nicht zerschossen haben möchte. Es gibt auch ukrainische Pazifisten, die dasselbe sagen. Die Besetzung eines Landes ist nicht eine irreversible Sache, das ändert sich auch wieder. Aber die Toten sind für immer tot – und bislang dürften allein 40'000 bis 50'000 ukrainische Zivilisten in dem Krieg getötet worden sein.
Wenn Putin mit der Atomdrohung durchkommt und damit ein souveränes Land wie die Ukraine einfach einnehmen kann – wenn dies Schule macht: In was für einer Welt leben wir dann?
In meinem Buch hab ich mich schweren Herzens dafür ausgesprochen, die Nato-Ostgrenze mit martialischen Verteidigungssystemen auszurüsten, damit die russische Armee gar nicht erst auf die Idee kommt, zu versuchen, weiter vorzurücken. Diese Abschreckungslogik wäre auf lange Sicht zwar nicht stabil, aber in der jetzigen Situation immerhin klug.
Bestünde das Eskalationspotenzial in diesem Fall dann nicht an der Nato-Ostgrenze?
Das ist richtig – deshalb sollte man es auf lange Sicht nicht dabei belassen. Doch kurzfristig sollte die Abschreckung so gross sein, dass sich Putin nicht ein zweites Mal derart täuschen kann: Er ging ja davon aus, dass die Ukrainer die Russen willkommen heissen würden und seine Armee schlagkräftig sei. Das darf nicht ein zweites Mal passieren.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.