Was in der Ukraine auf dem Schlachtfeld tatsächlich vorgeht, lässt sich schwer beurteilen. Dazu dominiert im Westen und so auch in der Schweiz zweifelsohne eine ukrainische Sicht auf den Kriegsverlauf. Ziemlich sicher ist, dass sich der russische Präsident verschätzt hat – bei der eigenen Truppenstärke, beim Widerstand der Ukraine und den Auswirkungen der internationalen Sanktionen.
SRF News: Wie konnte sich ein erfahrener Staatsmann wie Putin so verschätzen?
David Nauer: Es gibt Leute, die glauben, er sei verrückt geworden und habe deswegen eine so irre Entscheidung gefällt. Davon gehe ich nicht aus. Aus meiner Sicht ist Putin extrem schlecht informiert über den Zustand der Welt, Russlands und der Ukraine. Er hat irgendwie den Kontakt zur Realität verloren und ist Opfer der eigenen Propaganda geworden. Der Realitätsverlust dürfte eine Folge des Systems Putin sein, wo er als «Sonnenkönig» nur mit ihm gefälligen Informationen gefüttert wird.
Wo informiert sich Putin und wer berät ihn?
Man weiss, dass Putin nicht im Internet surft, sondern eine vorgefilterte Sicht auf die Welt bekommt – in Form von Papier-Dossiers auf den Arbeitstisch. Zu seinen Vertrauten gehören Verteidigungsminister Sergei Schoigu sowie andere Männer aus dem Sicherheits- und Geheimdienst: der Sekretär des Sicherheitsrats Nikolai Patruschew und Inlandgeheimdienst-Chef Alexander Bortnikow. Sie kommen wie Putin aus dem Sicherheitsapparat und dem KGB. Die meisten sind gegen 70 Jahre alt, extrem konservativ, anti-westlich und reaktionär. Wenn Putin noch auf jemanden hört, dann auf diesen Männer-Club.
Worauf stützen Sie diese Erkenntnisse?
Putin hat ganz offenbar den Einmarschbefehl gegeben, ohne im Bilde zu sein, welch heftigen Widerstand seine Soldaten erwartet. Öffentliche Auftritte Putins zeigen zudem, wie die Gäste des Staatschefs in riesigem Abstand zu Putin sitzen. Sogar Verteidigungsminister Schoigu und Aussenminister Sergei Lawrow dürfen ihm physisch nicht mehr nahekommen.
Gemäss russischen Medien lebt Putin seit dem Ausbruch der Pandemie in Isolation. Wer zu ihm will, muss Abstand halten oder zwei Wochen in Quarantäne. Der Eindruck ist weitverbreitet. Russische Oppositionelle spotten bereits über den «Opa im Bunker». Die Rede ist von einer «Bunker-Präsidentschaft». Auch der US-Geheimdienst CIA, der in der aktuellen Krise schon öfters recht hatte, geht von einer zunehmenden Isolation Putins aus.
Wie gross ist der Druck auf Putin?
Das System Putin ist in einer nie dagewesenen Krise. Bisher stellte er seine Macht auf zwei Säulen: Der Bevölkerung versprach er Stabilität und hielt dies auch, doch das ist mit dem Krieg und der totalen Abkoppelung Russlands vorbei. Zugleich spielte er als Schiedsrichter die Machtgruppierungen der Elite gegeneinander aus: Geheimdienstler gegen Oligarchen, Staatskonzernchefs gegen Wirtschaftsliberale. Nun steht er ganz auf der Seite der ideologischen Hardliner. Die zivilen Kräfte der Elite und Wirtschaftsleute sollen entsetzt und verängstigt sein, hört man aus Moskau.
Das klingt gefährlich für Putin?
Es ist ein gefährlicher Moment für ihn. Er hat einen schrecklichen Fehler gemacht, der nicht nur die Ukraine zerstört, sondern sehr viele, auch mächtige Leute in Russland unglücklich macht. Er weiss aber, wie man sich schützt. Skepsis ist also angezeigt, wenn Gegner im In- und Ausland auf eine Palastrevolution hoffen. Putin ist bereit, sehr viel Gewalt anzuwenden. Das dürfte er auch bei der Verteidigung seiner Macht tun.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.