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«Kiew ist noch immer weit entfernt von Normalität»
Aus Echo der Zeit vom 30.05.2022. Bild: Keystone
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Krieg in der Ukraine Rückkehr nach Kiew – in eine Stadt weit weg von der Normalität

Der Krieg tobt weiter – doch in der ukrainischen Hauptstadt Kiew herrscht eine eigenartige Ruhe.

Wie ist die Lage in der Ukraine? Russland verstärkt seine Angriffe im Donbass, im Osten der Ukraine. Die Stadt Sjwejerodonezk steht aktuell unter massivem Beschuss. Gleichzeitig führen ukrainischen Truppen im Süden des Landes eine Gegenoffensive durch. Es gelang ihnen nach eigenen Angaben, von den Russen besetzte Gebiete zurückzuerobern.

Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? «Dass die russische Armee durchaus noch Schlagkraft hat», erklärt SRF-Journalist David Nauer. «Nach der schmachvollen Niederlage der Russen bei Kiew ging man ja davon aus, die Truppen des Kreml seien ausgelaugt. Dem ist offenkundig nicht so, wie man im Donbass sieht.» Aber die Russen seien auch nicht allmächtig. «Sie haben begrenzte Ressourcen, deswegen gelingt es den Ukrainern, andernorts vorzurücken.» Es herrsche also zurzeit ein Patt auf dem Schlachtfeld. «Eines, das sehr viel Tod und Zerstörung bringt.»

Wie ist die Stimmung in Kiew? Während im Süden und Osten weiter gekämpft wird, herrscht in Kiew eine eigenartige Ruhe, wie Nauer feststellt. Er ist am Sonntag in der Hauptstadt angekommen.

Es ist ein Gefühl, als würde man einen Film über eine Stadt schauen, aber jemand hat den Ton ausgeschaltet.
Autor: David Nauer SRF-Auslandredaktor

«Es ist ein Gefühl, als würde man einen Film über eine Stadt schauen, aber jemand hat den Ton ausgeschaltet.» Das Zentrum sei etwas belebter, aber in den Wohnvierteln sei es unheimlich still. «Ein bisschen wie in einer Geisterstadt.» Er habe am Morgen aus dem Fenster geschaut und erwartet, dass Menschen zur Arbeit und Kinder zur Schule gehen würden. Doch stattdessen seien die Strassen leer geblieben.

Wie verlief die Reise? «Der Zug nach Kiew war ausverkauft», erzählt der ehemalige Moskau-Korrespondent. Das liege an den vielen Menschen, die in die Ukraine zurückkehrten. «Vor allem Frauen und Kinder: In einem Abteil sassen Grossmutter, Mutter und Tochter – zusammen mit einer Katze. In Kiew warteten dann die Männer der Familie auf sie.»

Panzersperre auf dem Maidanplatz im Zentrum von Kiew.
Legende: Der Krieg ist nicht vorbei: Panzersperre auf dem Maidanplatz im Zentrum von Kiew. Keystone

Sie kehrten aber mit Vorsicht zurück. «Die Leute sagten mir, wir schauen, wie es läuft, vielleicht gehen wir wieder.» Man müsse auch bedenken, dass Hunderttausende aus der Stadt geflohen seien. «Wenn jetzt jeden Tag ein paar hundert zurückkehren, wirkt die Stadt noch lange halbleer.»

Wie präsent ist der Krieg in Kiew? Unter Beschuss sei die Hauptstadt nicht. «Zumindest nicht, seit ich gestern hier angekommen bin», sagt Nauer. Im Zentrum seien auch einige Läden und Restaurants geöffnet. «Dennoch ist Kiew weit von der Normalität entfernt.» Man sehe viel Militär auf den Strassen, das Regierungsviertel sei komplett abgesperrt.

Wie ist die Versorgungslage? «Gut», sagt Nauer. «Im teuren Supermarkt gibt es alles: frische Erdbeeren, Kaviar, veganes Joghurt usw. Auch die Regale anderer Läden sind voll.» Doch das Problem sei, dass viele Leute weniger Geld hätten als vor dem Krieg. «Ein Mann hat mir vorgerechnet, statt umgerechnet 2500 Franken verdienten er und seine Frau nun noch 1200 – und das bei steigenden Preisen. Er sagt, er spare, wo er könne.»

Wie ist die Stimmung im Vergleich? David Nauer war Ende März das letzte Mal für SRF in der Ukraine, in Lwiw. Damals beschrieb er den starken Widerstandswillen der Bevölkerung, ihre Entschlossenheit und ihre Siegessicherheit. «Dieser Widerstandswillen ist ungebrochen, das ist mein Eindruck», sagt er mit Blick auf die Menschen in Kiew. «Aber es macht sich eine gewisse bleierne Müdigkeit breit, zumindest hier.»

Plakat mit Kriegsparolen im Zentrum von Kiew, Mann am Handy
Legende: Auch bei ausbleibendem Beschuss ist das Leben in der Hauptstadt nicht wie früher. Keystone

Es fehlten richtig gute Nachrichten von der Front. «Viele Leute realisieren, dass dieser Krieg möglicherweise noch sehr lange dauern wird.» Gleichzeitig häuften sich die Alltagssorgen. «Ich erlebe die Ukrainer nachdenklicher, ernster, bedrückter als vor ein paar Wochen.»

Echo der Zeit, 30.05.2022, 18:00 Uhr ; 

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