US-Sicherheitsstrategen in Washington beschäftigen sich seit Jahren intensiv mit der Ukraine. Einer davon ist Alexander Vindman. Der Armee-Offizier war der führende Ukraine-Experte im Sicherheitsrat von Präsident Donald Trump – bis dieser ihn im Sommer 2020 entliess.
Vindman hält den Kampf der Ukrainer nicht für hoffnungslos. Und spricht sich im Interview für schärfere Sanktionen aus.
Alexander Vindman, die Ukrainer verteidigen sich gegen eine russische Übermacht, können sie standhalten?
Alexander Vindman: Sie haben absolut eine Chance. Die ersten sieben Tage sind für die russischen Kräfte schlecht gelaufen, so schlecht, dass Wladimir Putin es vergessen kann, die Ukraine in einem Blitzkrieg zu erobern. Denn die Ukrainer und Ukrainerinnen wehren sich. Nun tritt Plan B in Kraft: Die Städte zu erobern, mit unmenschlichen Luftangriffen zivile Einrichtungen zu bombardieren. Es entspricht der Doktrin der russischen Armee, möglichst viel Feuerkraft zu benutzen.
Das heisst, der ukrainische Widerstand hat einen hohen Preis, dieser Krieg wird viele Menschenopfer kosten.
Ja, der Krieg ist tödlich und zerstörerisch, und die Ukrainer haben Verluste erlitten. Aber sie haben immer noch eine funktionierende Luftwaffe und Luftverteidigung, und das ist verblüffend. Sie formieren jetzt kleine Einheiten, so können sie russische Einheiten ausserhalb der Städte angreifen. Es stimmt: Die russische Armee ist überlegen, aber die Ukrainer haben eine unglaubliche Kampfmoral.
Wir geben der Ukraine immer nur gerade das Nötigste, auch jetzt noch, ein bisschen Flugabwehr, ein bisschen Panzergranaten.
Der Kriegsausbruch kam mit einer acht Jahre langen Ankündigungsdauer, seit der Annexion der Krim-Halbinsel und der Destabilisierung der Ost-Ukraine 2014. Haben die USA und die europäischen Länder die Ukraine sitzen lassen?
Ja. Aber wir haben sie auch überrascht. Wir zeigen uns auf eine Art und Weise solidarisch, wie es nicht zu erwarten war. Die Sanktionen bestrafen Russland und erschweren die militärischen Operationen. Das ist mittelfristig sehr wichtig, auch, weil sich das russische Volk gegen Putin wenden wird. Aber sicherheitspolitisch haben wir versagt.
Wir geben der Ukraine immer nur gerade das Nötigste, auch jetzt noch, ein bisschen Flugabwehr, ein bisschen Panzergranaten. Wir sollten den Ukrainern unlimitiert alle kriegswichtigen Materialien schicken, in Form eines Leih- und Pacht-Programms wie im Zweiten Weltkrieg. Wir müssen den Ukrainern jetzt alles geben, damit sie diesen Kampf überleben.
Aber wenn man jetzt Waffen liefert, wird dann dieser Krieg nicht nur schlimmer, blutiger? Oder anders gesagt: Kommen die Lieferungen nicht zu spät?
Ja, ich denke, sie hätten vorher geschehen müssen. Es ist ein Hohn, dass wir nicht frühzeitig Waffen lieferten, um die russische Aggression zu verhindern. Aber die Russen führen nun einen verheerenden Angriffskrieg gegen das ukrainische Volk, und dieses wird nicht aufgeben. Wir können dasitzen und zuschauen, wie Ukrainerinnen und Ukrainer hilflos getötet werden. Oder wir können sie mit Waffen ausrüsten, damit sie ihre Souveränität und Landesgrenzen bewahren können.
Trump schwärmte noch Stunden vor der russischen Invasion von Putins Genie.
Sie sassen bis 2020 im Nationalen Sicherheitsrat von US-Präsident Donald Trump. Sie haben hautnah miterlebt, wie dieser die Militärhilfe an die Ukraine einfror, um Druck auf den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski auszuüben. Hat diese Affäre der Ukraine geschadet?
Absolut, denn die Ukrainer kamen natürlich nicht an die Hilfsgelder heran. Und die Tatsache, dass ein US-Präsident Sicherheitsinteressen für seinen persönlichen Nutzen aufs Spiel setzt, stellte die USA in ein zweifelhaftes Licht. Nach dem Skandal wurde die Ukraine zum radio-aktiven Thema, das niemand berühren wollte, weder die Republikaner noch die Demokraten.
Es ging wertvolle Zeit verloren, die wir hätten nutzen können, um die Ukraine zu stärken. Und es ging weiter. Trump hat die USA polarisiert, er hat den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar verursacht, was unser Land in den Augen Putins schwach und zerstreut erscheinen liess. Er schwärmte noch Stunden vor der russischen Invasion von Putins Genie, was diesen glauben machte, dass die Folgen eines Angriffs minimal sein würden.
Aber hat Trump nicht sogenannte tödliche Waffen an die Ukraine geliefert, die Javelin-Luftabwehrraketen? Joe Biden hat das nicht gemacht, bis vor Kurzem.
Das nationale Sicherheitsteam von Trump war mit republikanischen Falken besetzt. Diese haben die Gefahr für die Ukraine immer für hoch eingeschätzt. Sie veranlassten die Lieferung der Luftabwehrraketen an die Ukraine. Präsident Trump spielte dabei keine grosse Rolle. Das koordinierte das Verteidigungsdepartement und das Sicherheitsteam im Weissen Haus. Trump hatte davon keine Ahnung.
Zurück zur Gegenwart. Was sollten die USA und Europa ihrer Meinung weiter tun, um der Ukraine zu helfen?
Die Sanktionen sind heftig, aber man kann sie noch verstärken. Es muss möglich sein, die Finanzflüsse im Öl- und Gashandel mit Russland zu stoppen, und gleichzeitig die Schockwirkung für unsere Märkte abzufedern.
Vielleicht müssen wir auch einen Preis bezahlen, vielleicht muss Europa zum Beispiel die Industrieproduktion herunterfahren. Denn je länger wir warten, desto grösser wird die Möglichkeit eines Flächenbrands, angesichts der bereits abscheulichen Taten Putins. Wenn die USA ins Kriegsgeschehen eingreifen müssen, dann steigen die Risiken. Je schneller dieser Konflikt endet, desto besser für alle Beteiligten.
Das Gespräch führte Isabelle Jacobi.