Seit beinahe zwei Monaten läuft die ukrainische Sommeroffensive, um die russische Armee aus den besetzten Gebieten zu vertreiben. Grosse Erfolge konnte die Ukraine bislang nicht verzeichnen. Zuletzt meldete sie aber neue Vorstösse gegen russische Stellungen. SRF-Ukrainespezialist David Nauer versucht eine Einschätzung.
Was weiss man über die aktuelle Lage an der Front?
Die Ukrainer sind im Osten bei der Stadt Bachmut auf zwei oder drei Dörfer vorgerückt. Zum Teil heisst es, die Dörfer seien bereits erobert und die Russen hätten abziehen müssen. Im Süden zeigt sich im Gebiet von Saporischja ein ähnliches Bild. Auch dort greifen die Ukrainer massiv an und bringen die Russen in Bedrängnis. Allerdings gibt es an der ganzen Front auch immer wieder russische Gegenangriffe. Die russische Armee hat also durchaus immer noch Offensivpotenzial, wenn sie auch an den meisten Frontabschnitten in der Defensive ist.
Welche Bedeutung haben die ukrainischen Vorstösse?
Man hat den Eindruck, dass die ukrainische Offensive neuen Schwung erhalten hat. Einige Experten sprachen in den letzten Wochen schon von einem Scheitern der Offensive, doch jetzt ist die Rede von einer zweiten Phase. Man kann also davon ausgehen, dass da noch etwas kommt, dass die Ukrainer noch versuchen werden, die russischen Linien grossflächig zu durchbrechen. Insgesamt aber ist die Lage allerdings doch sehr unübersichtlich.
Welchen Einfluss haben die von den USA gelieferten Cluster-Bomben?
Die Ukrainer setzen diese international sehr umstrittene Streumunition ein, um russische Schützengräben zu bekämpfen – offenbar recht erfolgreich. Die Russen ihrerseits nutzen die Streubomben in diesem Krieg schon lange, setzen sie aber in letzter Zeit offenbar noch häufiger ein als eh schon. Dadurch ist die Situation an der Front für die ukrainischen Soldaten viel gefährlicher worden.
Wie sieht es aus mit den Reserven an Soldaten?
Russland hat am Dienstag das Rekrutierungsalter von 27 auf 30 Jahre erhöht – offenbar bereitet der Kreml eine neue Mobilisierungswelle vor. Das hat sicher damit zu tun, dass die russische Armee sehr hohe Verluste erleidet. Es ist aber vor allem auch ein Zeichen, dass Wladimir Putin diesen Krieg weiterführen will – auch wenn das weitere zehntausende oder gar hunderttausende Tote und Verstümmelte zur Folge hat. Von den Ukrainern weiss man, dass sie noch einige Brigaden frische Truppen im Hinterland stationiert haben. Sie sind im Westen ausgebildet und mit westlichem Kriegsgerät ausgerüstet.
Wie wird dieser Krieg jetzt weitergehen?
Eine Prognose ist sehr schwierig – auch die Experten sind sich darüber keineswegs einig. Russische Militärblogger sagen zum Teil, dass die russischen Truppen erschöpft seien und ihre Linien womöglich nicht mehr lange halten werden. Gleichzeitig ist unter westlichen Experten umstritten, wie gross die Schlagkraft der Ukrainer überhaupt ist. Sicher ist einzig, dass beide Seiten weiterkämpfen wollen. Deshalb sieht es im Moment danach aus, dass der Krieg noch lange dauern wird.