Russland und die Ukraine galten immer als Brudervölker. Beide Länder beziehen sich mit ihrer Geschichte auf die gleichen Wurzeln. Nun hat Russland die Ukraine angegriffen und stellt die Ukraine als eigenständige Nation infrage. Der britische Journalist und Forscher Peter Pomerantsev beobachtet im Land, in dem er selber Wurzeln hat, den Aufstieg von neuen Patrioten. Befeuert durch Putins Angriffskrieg.
SRF News: Hätten Sie Verbrechen von Russen an ihrem Quasi-Brudervolk für möglich gehalten?
Peter Pomerantsev: Ja, denn ich weiss genau, wie Russland sich in Russland selber aufführt. Das System basiert auf Erniedrigung und Unterdrückung. Seit langem ist es Putins ideologisches Ziel, die institutionelle Nachkriegs-Architektur und die Weltordnung nach dem Kalten Krieg zu zerstören. Er will die philosophischen Konzepte zertrümmern, die wir hochhalten, weil er glaubt, wir nützten diese Konzepte, um unsere Macht zu vergrössern. Wir hingegen denken, dass dies universelle Werte sind.
Putin scheut keine Mühe, humanitäre Normen zu zerstören und zu zeigen, dass das ganze System, die Ideologie, die nach universellen Werten sucht, eine Illusion ist. Diese Gewalt ist nicht zufällig, sie ist zielgerichtet, gewollt und – es tut mir leid, das sagen zu müssen: Ihre Sinnlosigkeit ist voller Bedeutung.
Ist es nur Putin, der Mühe hat, die Ukraine als eigene Nation zu verstehen, oder ist das generell das russische Verständnis der Geschichte?
Putin ist gleichzeitig Symptom und Ursache all dessen. Er steht im Einklang mit einem grossen Teil der russischen Kultur und Gesellschaft. Aber er ist damit nicht ganz allein: Auch die deutsche Populär- und Politkultur nimmt die Ukraine nicht wirklich wahr. Die angelsächsischen Länder hatten lange Zeit ebenfalls ein schwammiges Bild der Ukraine. Das hat sich jetzt geändert. Die Vorstellung, dass die Ukraine nicht wirklich existiert, war aber sehr verbreitet, vor allem natürlich in Russland, aber auch in Europa und den USA.
Wenn die Ukraine nicht existiert, kann man alles mit ihr machen. Es ist einfacher für die Russen zu sagen, die Ukraine ist Fiktion, kein reales Land. Es ist auch einfacher, Falschinformationen zu verbreiten, wenn man kein klares Bild des Landes im Kopf hat – man kann sagen, ach, die Ukraine ist voller Nazis, Prostituierten und Korruption. So wird es für die Ukrainer zu einer Sicherheitsfrage, die Existenz ihres Landes ins allgemeine Bewusstsein zu rücken.
Haben Sie eine Vorstellung davon, wie sich die Ukraine verändern wird durch diesen Krieg?
Ein Freund und Mitarbeiter von mir ist Soziologe aus Charkiw. Jetzt dient er als Soldat und schreibt auf, was er erlebt und sieht. Viele Dinge verändern sich – zunächst einmal die Vorstellung von Patriotismus und Heldentum. Viele der lautstärksten Patrioten, bekannte Intellektuelle, sind nach Lwiw im Westen des Landes gegangen. Und diejenigen, die jetzt Tag für Tag Charkiw verteidigen und sich aufopfern, sind zum Beispiel Strassenwischer oder lokale Bürokraten, sagt der Soziologe. Von ihnen wurde immer angenommen, dass sie nicht loyal sind gegenüber dem ukrainischen Projekt. Heute sind sie die grössten Patrioten.
Andererseits besteht bei jeder Gesellschaft, die im Krieg steht, die Gefahr der Brutalisierung, die Gefahr, die Menschlichkeit zu verlieren, von Rachegedanken zerfressen zu werden. Darüber hat Selenski viel gesprochen, als ich ihn letzte Woche interviewte. Es ist eine schwierige Frage: Wie schaffst du es, nicht bitter und hasserfüllt zu werden?
Das Gespräch führte Roger Brändlin.