Russland hat die angekündigte Grossoffensive im Osten der Ukraine gestartet. Dies bestätigte Aussenminister Sergei Lawrow am Dienstag. Ob es Putin gelingt, den Donbass unter Kontrolle zu bringen, stehe noch in den Sternen, sagt der Militärexperte Wolfgang Richter.
SRF News: Fällt Mariupol, kontrolliert Russland einen Korridor vom Donbass in die Krim und damit den Zugang zum Asowschen Meer. Warum ist das für die russische Militärführung so entscheidend?
Wolfgang Richter: Damit Russland die Krim künftig vielleicht nicht nur über den Seeweg oder über die schmale Brücke an der Meerenge von Kertsch erreichen kann. Es geht um einen direkten Zugang für den normalen logistischen Verkehr auch zur Versorgung der dortigen Truppen. Ebenso um die Energie- und Wasserversorgung für die Krim, die bisher immer aus der Ukraine erfolgte. Das hätte man dann alles in eigener Hand.
Zudem gehört dieses Gebiet aus Moskauer Sicht zu den traditionellen russischen Gebieten. Dieses Narrativ von Putin hat sich allerdings als Illusion erwiesen, denn alle Ukrainer, ob russisch- oder ukrainisch-sprachig, habe sich jetzt eindeutig gegen Putin positioniert. Die Russen sind auf erbitterten Widerstand gestossen, sowohl der ukrainischen Streitkräfte als auch der Bevölkerung. So hat der Kremlchef erreicht, was er eigentlich nicht wollte: Er hat die nationale Identität der Ukraine weiter gefestigt.
Ein weiteres militärisches Ziel Putins ist die Einkesselung der ukrainischen Truppen im Donbass. Kann das gelingen?
Das könnte gelingen. Es war bereits zu Beginn des Krieges ein Ansatz, von Süden her Richtung Saporischschja und von Norden her über Charkiw vorzustossen, um sich irgendwo am Dnepr zu treffen. Wäre das gelungen, wären die ukrainischen Streitkräfte tatsächlich eingeschlossen worden. Bisher blieben aber alle Angriffsversuche wegen der langen Verbindungslinien und Flanken stecken. Die Russen stehen immer noch vor Saporischschja und haben sich in Charkiw festgebissen.
Der Schwerpunkt der russischen Operation liegt jetzt offenbar in der flachen Tiefebene zwischen Isjum und Luhansk. Das Gelände ist günstig für einen gepanzerten Angriff und bewegliche Angriffe von Truppen, die ja besser für diese Art der Kriegsführung ausgerüstet sind als etwa für den Stadtkampf.
Wie geht es weiter, wenn Russland das Gebiet im Osten ganz unter seine Kontrolle bringt?
Ob das gelingt, steht noch in den Sternen. Zwar hat Russland jetzt alle Reserven zusammengezogen, die es noch erübrigen konnte und auch Truppen aus dem Bereich Kiew zurückgenommen, die dort in Phase eins des Krieges eigentlich eine Niederlage erlitten. Nun geht es also wieder auf den Donbass zurück, um die Verwaltungsgrenzen der Gebiete Luhansk und Donezk unter Kontrolle zu bringen und vielleicht noch nach Westen in Richtung Dnepr vorzustossen.
Die Ukrainer ihrerseits haben sich taktisch bisher sehr gut geschlagen und sehr geschickt gekämpft. Auch verfügen sie noch über eine beträchtliche Zahl an durchschlagenden Waffensystemen und können den Russen einiges entgegenstellen. Der Ausgang dieser Schlacht ist also noch offen, wird aber darüber entscheiden, mit welchen Faustpfändern man dann in hoffentlich ernsthafte Friedensgespräche geht.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.