In der Ukraine fehlt es je länger je mehr an Soldatinnen und Soldaten. Um die Einberufung neuer Soldaten zu vereinfachen, sollen nun Gesetze angepasst werden. Beispielsweise soll die Altersgrenze für eine uneingeschränkte Kriegsdienstpflicht gesenkt werden – von 27 auf neu 25 Jahre. Osteuropa-Experte Andreas Umland über die aktuelle Lage in Kiew.
SRF News: Wie nehmen Sie den innenpolitischen Streit um die Mobilisierungsgesetze wahr?
Andreas Umland: Es ist ein sehr heftiger Streit, bei dem es auch um Verfassungsrechte, um Menschenrechte geht, was die Bestrafung von Wehrdienstverweigerern angeht. Aber es ist auch ein quasi unvermeidlicher Streit, weil die Armee jetzt einfach neue Leute braucht, um die oft schon seit 2022 dienenden Soldaten abzulösen, beziehungsweise ihnen wenigstens die Möglichkeit für einen Urlaub zu geben. Das ist jetzt eine erzwungene Situation für die ukrainische Führung – es gibt eben nicht genug Freiwillige mehr, die für den nicht besonders guten Sold zu dienen bereit sind.
Wie beurteilt die Bevölkerung die Notwendigkeit zusätzlicher Rekrutierungen?
Ich glaube, kaum jemand ist prinzipiell dagegen und hat Zweifel an der Notwendigkeit dieser neuen Rekrutierung. Aber wenn es dann sozusagen an das eigene Leben, an die eigene Familie geht, dann möchten eben viele eher nicht, dass jetzt noch der Sohn, der Bruder, der Vater auch noch eingezogen wird.
Viele ukrainische Männer im wehrfähigen Alter sollen sich ins Ausland abgesetzt haben. Die Rede ist von etwa 650'000 Männern. Werden die jetzt auch verstärkt ins Visier genommen?
Ja, das ist auch ein Aspekt des ganzen Problems. Man muss hier aber unterscheiden zwischen den Männern, die im Ausland sind und tatsächlich wehrfähig sind oder sozusagen unter das ukrainische Mobilisierungsgesetz fallen, und denjenigen, die sowieso nicht eingezogen werden – aus Gesundheitsgründen oder weil sie zum Beispiel Väter von drei oder mehr Kindern sind.
Prinzipiell sind diese Männer im Ausland für die Ukraine besonders interessant, weil sie dann nicht aus der ukrainischen Wirtschaft oder dem ukrainischen Staatswesen herausgezogen werden müssen.
Prinzipiell sind diese Männer im Ausland für die Ukraine besonders interessant, weil sie dann nicht aus der ukrainischen Wirtschaft oder dem ukrainischen Staatswesen herausgezogen werden müssen. Die Frage ist ja auch: Wenn jetzt mehr Männer eingezogen werden, wie werden die dann in ihren Firmen, in ihren Institutionen ersetzt?
Wie viele Soldaten braucht die Armee?
Die Rede ist jetzt von circa einer halben Million, die eingezogen werden müssten, um auch die Verwundeten und Getöteten zu ersetzen, um auch diejenigen, die jetzt abgelöst werden müssen und die schon lange gedient haben, wieder nach Hause schicken zu können. Das ist für die Ukraine eine relativ hohe Zahl. Die Ukraine ist zwar eine der grösseren Nationen Europas, eine mittlere Nation mit circa 40 Millionen Einwohnern, insofern ist das schon möglich. Aber das ist schon eine relativ hohe Zahl für die Ukraine.
Der Ukraine fehlen die Soldaten, eine zusätzliche Rekrutierung ist schwierig. Das spielt letztlich doch Russland in die Hände?
Russland hat genug Geld, weil die Sanktionen nicht richtig funktionieren, um es für die ärmeren Schichten in Russland attraktiv zu machen, in die Armee zu gehen.
Ja, natürlich. Das ist auch ein Vorteil, den Russland hat. Russland hat eine grössere Bevölkerung und genug Geld, weil die Sanktionen nicht richtig funktionieren, um es für die ärmeren Schichten in Russland attraktiv zu machen, in die Armee zu gehen. Deswegen hat Russland diese Mobilisierungsprobleme bis jetzt zumindest noch nicht in grösserem Ausmass. Die Ukraine ist finanziell einfach nicht in der Lage, den ja auch sehr riskanten Armeedienst, auch die ganzen Sozialmassnahmen, die da mit dranhängen, so grosszügig zu finanzieren wie Russland.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.