Auf dem Platz vor dem Michaelskloster im Herzen Kiews stehen ausgebrannte russische Panzer und zerschossene ukrainische Autos. Ein Mahnmal des Krieges. Ruslan, ein jovialer 38-Jähriger in Uniform, hat sich eine ukrainische Fahne über die Schultern gehängt. Ab und zu erklärt er Schaulustigen die Details des ausgestellten Kriegsgeräts.
Ruslan kämpft seit Beginn des Krieges als Freiwilliger. Er sagt: «Ich bin gegen die Mobilisierung, denn wenn man einen Menschen zu etwas zwingt, wird er seine Aufgabe nicht erledigen. Wir benötigen Männer, die kämpfen wollen und nicht vor dem Krieg davonlaufen.»
Neues Gesetz zur Armeeverstärkung
Mikita ist 20 Jahre alt und noch im Studium. Er weiss nicht, wie er sich verhalten wird, falls er das Aufgebot erhält. Er sagt: Er sei wie versteinert. Er habe keine Antwort auf die Frage, was zu tun sei. Den meisten Männern gehe es wohl ähnlich. Mikita meint aber auch, der ukrainische Staat habe das Recht, die Bevölkerung zum Kriegsdienst zu zwingen: «Wir haben keine andere Wahl. Der Staat, das sind wir. Wenn wir aufhören zu kämpfen, dann werden die Russen uns vernichten.»
Lange hofften viele Ukrainer, der Krieg sei bald vorbei, die Armee erledige das schon. Männer wie Mikita spendeten zwar für die Armee, führten aber ihr normales Leben weiter, wenn auch mit Einschränkungen.
Doch nun hat sich die Lage an der Front verschlechtert. Es mangelt nicht nur an Munition, sondern auch an Soldaten. Die Armee braucht Verstärkung. Deshalb muss dringend ein neues Gesetz her, das die Mobilisierung regelt, und das gerecht und transparent ist. Denn im Moment herrscht Intransparenz, es gibt Widersprüche und auch Korruption.
Angst vor der Rekrutierung
Anastasia Radina ist die Vorsitzende des Antikorruptionskomitees des Parlaments. Sie sagt: «Es braucht Gerechtigkeit. Es kann doch nicht sein, dass die einen seit zwei Jahren knietief im Schlamm stecken – und andere die Mobilisierung kritisieren, während sie aber die relative Sicherheit geniessen, die sie der Luftabwehr und den Soldaten in den Schützengräben zu verdanken haben.» Es brauche Fronturlaube und Ablösung für die Soldaten sowie vorhersagbare und transparente Regeln.
Tatsächlich sorgt das Thema Mobilisierung in der Bevölkerung für Unruhe. Die Gerüchte überschlagen sich, es ist von Männern die Rede, die angeblich auf der Strasse aufgegriffen und an die Front geschickt wurden. Viele meiden Fitnessstudios, denn dort, so heisst es, werde besonders gerne rekrutiert.
Es gibt Männer, die sich kaum mehr aus dem Haus wagen, andere sind ins Ausland geflohen, durch Bestechung oder über die grüne Grenze. Denn seit Kriegsbeginn dürfen Männer zwischen 18 und 60 das Land nur im Ausnahmefall verlassen.
Manche der Missstände sind wohl darauf zurückzuführen, dass die Rekrutierungsbüros es versäumt haben, alle Männer zu registrieren. Das versuchen sie nachzuholen, manchmal auf aggressive Art und Weise. Diese Intransparenz eines schlecht funktionierenden Systems befeuert Gerüchte und schürt Ängste in der Bevölkerung. Eine echte Reform ist deshalb dringend nötig.