Finanzkrisen, Migrationkrisen, Corona-Pandemie, Gender- und identitätspolitische Krisen, Ukraine-Krieg, Energiekrise und über allem schon längst die Klimakrise. Ist die Welt derart aus dem Lot, dass nichts mehr normal erscheint? Auf Spurensuche mit dem Soziologen Stephan Lessenich. «Nicht mehr normal: Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs» titelt er sein jüngstes Buch.
SRF News: Wieso erscheint uns gerade jetzt vieles nicht mehr normal?
Stephan Lessenich: Wandel und Krisen gab immer, eine statische Gesellschaft gibt es nicht. Neuartig ist aber vor allem bei der Corona-Pandemie, dass sie unseren Alltag in Zentraleuropa massivst beeinflusst und eingeschränkt hat.
Die gesellschaftliche Normalität war lange stabil, doch in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten ist viel ins Wanken geraten.
Das kannte man bisher nur von anderen Weltregionen, etwa durch Naturkatastrophen oder Pandemien. Corona hat das Fass vermutlich zum Überlaufen gebracht. Die Leute in Europa merkten, dass es jetzt wirklich ans Eingemachte geht.
Wie entsteht Normalität?
Es ist ein Zusammenspiel von Regelmässigkeiten des sozialen Handelns. Die Menschen legen ein alltägliches Handeln an den Tag, bei dem sie auf die anderen achtgeben und sich auch an ihnen orientieren, womit sich bestimmte Normalitäten einspielen.
Dazu kommen Normen, Gesetze und bestimmte Instanzen, die kontrollieren und Verstösse sanktionieren wie Polizei und Justiz. Daraus ergibt sich eine gesellschaftliche Normalität. Diese war lange stabil, doch in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten ist viel ins Wanken geraten.
Die Gender-Diskussion als Beispiel: Der Bundesrat will in der Schweiz kein drittes Geschlecht neben weiblich und männlich. Deutschland kennt seit 2018 offiziell ein drittes Geschlecht. Ist das «normal» geworden?
Normalisiert hat sich das wahrscheinlich noch nicht in dem Sinne, dass grosse Bevölkerungsschichten es als normal betrachten. Die Geschlechterfrage ist ein sehr gutes Beispiel für sich wandelnde Normalitäten, wo der Gesetzgeber nachzieht. Homosexualität ist sehr viel normaler geworden, ohne dass sie weniger umkämpft wäre. Auch in der Genderfrage verschieben sich gerade Normalitäten.
Entscheidet am Schluss eine Mehrheit, was normal ist?
Über Normalitäten entscheiden machtvolle Gruppen in unseren Gesellschaften. Nicht nur ökonomisch Mächtige, sondern auch politische wie der Gesetzgeber.
Wenn breitere Mittelschichten ihre Normalitäten verändert sehen, verspüren wir ein verallgemeinertes Krisenbewusstsein.
Letztlich befinden aber die Leute mit ihrem Selbstverständnis darüber, was normal ist, was regelmässig getan wird und was als normal gilt. In unseren Gesellschaften sind das die Mittelschichten mit ihren Lebenslagen und Lebensführungsmustern.
Was hat das für Folgen, wenn der Mittelschicht das Normale abhandenkommt?
Diese Lage ist meines Erachtens erreicht. Wenn breitere Mittelschichten ihre Normalitäten verändert sehen, verspüren wir ein verallgemeinertes Krisenbewusstsein. Erschütterungen an den Rändern genügen nicht. Doch wenn das Zentrum einer Gesellschaft betroffen ist, wird auch der öffentliche Diskurs emotionaler und zum Teil auch aggressiver.
Wie kann die Gesellschaft damit umgehen, wenn sich das Normale auflöst?
In Gesellschaften wie der Schweiz und Deutschland müsste man vor allem darüber reden, was das alte Normale war und ob es überhaupt noch normal war. Es geht um all diese Normalitäten, die wir jetzt erschüttert sehen, etwa in der Energieversorgung oder in der Geschlechterfrage und mit einer klaren Dominanz der männlichen Perspektiven. Mehr Transparenz im Diskurs, mehr Offenheit und mehr Konflikt mit angemessenen Austragungsmechanismen wären schon gut.
Das Gespräch führte Markus Hofmann.