Wirtschaftlich ist die EU eine Grossmacht. Militärisch ein Zwerg. Bestrebungen, das zu ändern, erinnern an das Ungeheuer von Loch Ness, das immer mal wieder auftaucht, aber dann wieder verschwindet.
Zwei Weckrufe aus Washington
Bereits 1999 beschloss die EU erstmals die Schaffung einer Eingreiftruppe. Zum Fliegen kam sie nie. Entstanden sind lediglich zwei kleine Kampfgruppen à je 1500 Mann. Eingesetzt wurden sie noch nie. Doch dann ertönte ein lauter Weckruf für die Europäische Union, und zwar mit US-Präsident Donald Trump, der von Europa wenig und von der Nato nichts hielt.
Plötzlich war klar: Es ist keineswegs in Stein gemeisselt, dass Washington auf ewige Zeiten die Hauptverantwortung für die Verteidigung Europas trägt. Einen zweiten Weckruf gab es im vorigen Jahr, als US-Präsident Joe Biden ohne grosse Rücksprache mit den Partnern den Abzug aus Afghanistan verkündete. Und die Europäer feststellen mussten, dass sie nicht mal imstande waren, ohne die US-Armee den Flughafen Kabul zu sichern und für Evakuierungen offenzuhalten.
Ergänzung zur Nato
Mit dem aktuellen, dem Ukraine-Krieg, hat die künftige Eingreiftruppe also direkt nichts zu tun. Da sie erst 2025 operationell sein soll, dürfte sie da kaum mehr eine Rolle spielen. Und gewiss ist die neue Militärformation keine Konkurrenz zur Nato, vielmehr punktuell eine Ergänzung. Maximal 5000 Soldatinnen und Soldaten sind keine Streitmacht. Selbst wenn sie sowohl Boden-, See-, Luft- und Cyberkräfte umfassen.
Zum Vergleich: Die Nato kann notfalls weit über 100'000 Männer und Frauen mobilisieren. Allein die Nato Response Force hat eine Truppenstärke von 50'000, ihre in zwei bis drei Tagen mobilisierbare «Speerspitze» zählt 20'000 Leute. Die Grössenverhältnisse machen klar: Die EU-Eingreiftruppe dient eher dem militärischen Krisenmanagement als der Kriegsführung. Gedacht wird an Rettungs- und Evakuierungseinsätze, an Stabilisierungs- und Friedensoperationen, die unter EU-, aber im Grunde auch unter UNO-Flagge stattfinden können.
Embryo einer europäischen Armee
Dafür kann die künftige EU-Eingreiftruppe nützlich sein. Zumal die Kooperation und Koordination zwischen der Nato und der EU in jüngster Zeit endlich besser geworden ist. Nato-seitig wird nicht länger jegliche sicherheitspolitische Emanzipation der EU gleich als Konkurrenz wahrgenommen. Eine Arbeitsteilung bietet sich oft an.
Die neue EU-Militäreinheit soll flexibel und schnell einsetzbar sein und ist modular gedacht. Es ist nicht nötig, dass stets sämtliche EU-Länder mitmachen. Denkbar sind auch sogenannte «Koalitionen der Willigen» aus einzelnen Mitgliedstaaten. Das erhöht die Handlungsfähigkeit.
Von der «strategischen Autonomie» Europas gegenüber den Vereinigten Staaten, wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sie predigt, kann auch mit der Eingreiftruppe noch längst keine Rede sein. Sie ist allenfalls das Embryo einer europäischen Armee.