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Weckruf Afghanistan? Der sicherheitspolitische Dornröschenschlaf der EU

Die Afghanistan-Krise belegt die Handlungsunfähigkeit der EU in Sicherheitsfragen. Doch ein gemeinsamer Nenner ist fern.

Die EU-Verteidigungsminister und nun auch die EU-Aussenminister beraten über die Konsequenzen aus der Afghanistan-Krise. Politiker über alle Lager hinweg sprechen wie aus einer Stimme: Die letzten Wochen hätten mehr als deutlich gemacht, dass die EU dringend mehr Handlungsfähigkeit in sicherheitspolitischen Fragen benötige.

Diskutiert wird über eine neue EU-Eingreiftruppe. Der Ruf nach einer solchen stösst bei vielen EU-Staaten aber auf taube Ohren.

Es wird Geld und Energie verschwendet. Und der alleinige Grund, warum es nicht funktioniert, ist der nicht vorhandene politische Wille.
Autor: Johannes Varwick Professor für europäische Sicherheitspolitik an der Uni Halle

Die EU hat eigentlich eine Schnell-Eingreiftruppe. Sie besteht aus 1500 Personen. Sie hat auch einen Namen: «EU-Battlegroup». Sie ist jederzeit im Umkreis von 6000 Kilometern von Brüssel einsetzbar. Sie besteht seit bald 20 Jahren. Eingesetzt wurde sie aber noch nie.

Das Problem ist nicht beim Militär zu suchen, sondern bei den Politikerinnen und Politikern, analysiert Johannes Varwick, Professor für europäische Sicherheitspolitik an der Uni Halle in Deutschland. Einsatzfähig wären diese EU-Truppen: «Wir haben nicht nur die Battlegroup, sondern auch ein multinationales Hauptquartier in Deutschland. Da wird ein Haufen Geld ausgegeben, es werden tragfähige Strukturen vorgehalten – und sie werden nicht genutzt.»

Soldat hält gefaltetet EU-Fahne in der Hand.
Legende: Jeder, der damit zu tun habe, sei über die aktuelle Lage verzweifelt, sagt Varwick. «Es wird Geld und Energie verschwendet. Und der alleinige Grund, warum es nicht funktioniert, ist der nicht vorhandene politische Wille.» Keystone

Expertinnen und Experten in allen EU-Staaten sind sich einig: Die EU müsste in sicherheitspolitischen Fragen dringend handlungsfähiger werden.

Dringender Handlungsbedarf

Die Glaubwürdigkeit der EU stehe in dieser Frage auf dem Spiel, betont auch Ronja Kempin von der Stiftung Wissenschaft und Politik: «Die Mitgliedsstaaten geben sich immer noch dem Glauben hin, dass sie allein in der Lage sind, solche Operationen durchführen zu können. Doch die Zeiten, in denen sie allein auf der Grundlage ihrer nationalen Kapazitäten in der Lage waren, sicherheits- und verteidigungspolitisch einen Unterschied zu machen, sind längst vorbei.»

Frankreich ist in dieser Frage eine Ausnahme. Seit Jahren drängen französische Präsidenten der EU Grundsatzdebatten über «strategische Autonomie» auf, ohne gehört zu werden.

Die Zeiten, in denen die EU-Staaten allein auf der Grundlage ihrer nationalen Kapazitäten in der Lage waren, sicherheits- und verteidigungspolitisch einen Unterschied zu machen, sind längst vorbei.
Autor: Ronja Kempin Stiftung Wissenschaft und Politik

Erst in jüngster Zeit beginne in Deutschland ein langsames Umdenken in dieser Frage, beobachtet der Politikwissenschaftler Varwick. Aber in Osteuropa finde Frankreich weiterhin kein Gehör. Sicherheitsfragen wollten diese Staaten nur im Nato-Verbund und mit den USA am Tisch diskutieren. «Das war traditionell der Hintergrund des Zögerns: In Berlin, Warschau und anderswo wollte man keine Konkurrenz zur Nato. Die Lage hat sich aber geändert. Die Amerikaner haben damit heute keine Probleme mehr.»

Macron will handeln

Darum sollte die EU nun einen erneuten Anlauf nehmen, alte Konzepte offen zu hinterfragen. Auch wenn es derzeit nicht viel zu gewinnen gebe, so Varwick: «Der langsamste und grösste Bedenkenträger bestimmt das Tempo des Geleitzuges. Das kann so nicht weitergehen. Man müsste den Vertrag ändern und mehr zu einer Koalition der Willigen übergehen – das ist aber in der EU nicht mehrheitsfähig.» Durch die Konstruktion der Einstimmigkeit sei Europa zur Zuschauerrolle verdammt.

Macron
Legende: Zuschauen ist nicht die Handlungsmaxime des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Sein Land übernimmt Ende Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. Er verspricht darum schon heute, dass die europäische Sicherheitspolitik ganz oben auf seiner Agenda stehen werde. Keystone

Frankreich-Expertin Kempin hält grosse Fortschritte aber für unwahrscheinlich: «Das Zeitfenster für Frankreich ist sehr kurz. Im April 2022 finden dort Präsidentschaftswahlen statt. Das heisst, Paris hat maximal drei Monate Zeit, um seine europäischen Partner von dem Anliegen eines verbesserten Handelns in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu überzeugen.»

Niemand wird darum erstaunt sein, wenn die EU bei der nächsten Krise in sicherheitspolitischen Fragen keinen Schritt weiter ist.

Echo der Zeit, 02.09.2021, 18 Uhr

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