Nach Jahrzehnten des Untergrundkampfs ruft der inhaftierte Anführer der verbotenen Kurdenorganisation PKK in einem Brief seine Anhänger dazu auf, den Kampf gegen den türkischen Staat zu beenden. Laut Öcalan sei die Zeit gekommen für eine Annäherung. Das hat hohe Welle geschlagen – und nährt die Hoffnung, dass nach 40 Jahren Krieg zwischen dem türkischen Staat und den Kurden Frieden einkehrt. Doch rund um die Ankündigung bleiben viele Fragen offen, sagt der Experte im Interview.
SRF News: Wie realistisch ist es, dass die PKK ihre Waffen tatsächlich niederlegt?
Ismael Küpeli: Bereits bei den früheren Friedensprozessen – etwa bis 2015 – war die Frage der Waffenabgabe der eigentliche Knackpunkt. Die PKK lehnte damals die türkischen Forderungen ab, weil man befürchtete, kein Druckmittel mehr zu haben. Das könnte auch jetzt wieder zum Schlüsselfaktor werden.
Weder der kurdische Nationalstaat noch ein Föderalismus oder eine kurdische Autonomie werden eingefordert.
In dem Brief von Öcalan heisst es sinngemäss, dass es mehr Demokratie braucht und mehr politische Rechte für die Kurden. Was heisst das genau?
Tatsächlich ist es eine von den Stellen in dem Brief, die etwas vage formuliert sind. Spannender ist, was Öcalan auslässt. Weder der kurdische Nationalstaat noch ein Föderalismus oder eine kurdische Autonomie werden eingefordert: Stattdessen geht es um eine Demokratisierung der Türkei. Aber was diese demokratischen Rechte bedeuten sollen und ob gesonderte Rechte für die kurdische Bevölkerung enthalten sein müssen, bleibt unklar. Bislang forderte die kurdische Seite immer, dass es eine Art von kultureller Autonomie oder Anerkennung der kurdischen Identität in der Türkei braucht.
Wie gut ist Öcalans Entscheid innerhalb der PKK-Führung abgestützt?
Da es keine direkten Kommunikationswege gibt, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Führung der PKK im Nordirak die Situation ziemlich anders einschätzt und jetzt irgendwie mit dieser Verlautbarung von Öcalan umgehen muss. Die Führung hat bereits vor der gestrigen Verlautbarung deutlich gemacht, dass man direkt und ohne Umwege mit Öcalan kommunizieren will. Die kurdische Seite wird wohl auch eine Amnestie für inhaftierte Kurden und PKK-Kämpfer einfordern – und das als Teil der politischen und juristischen Voraussetzungen definieren, die erfüllt sein müssen, damit der Friedensprozess stattfinden kann.
Es mag sein, dass das Kalkül der Regierungskoalition darin besteht, die wieder erstarkte Opposition auseinanderzudividieren.
Wie könnte eine Zukunft aussehen für die kurdische Minderheit in der Türkei – ohne die PKK?
In der Vergangenheit haben die Kurden immer wieder versucht, über den parlamentarischen Weg ihre Interessen zu vertreten. Es ist also nicht so, dass die kurdische Sache an der PKK festgebunden ist. Es ist auch besser für die kurdische Seite, wenn diese Interessensvertretung nicht gleichzeitig einen bewaffneten Kampf führt. Aber damit das geschieht, müssen auch gewisse Dinge passieren, wie etwa die Demokratisierung der Türkei. Und mir fehlt etwas die Fantasie, wie das mit einem Erdogan und einem Bahceli gehen soll.
Welches Kalkül könnten hinter der Einigung stehen?
Es gibt Gerüchte, dass die Regierungskoalition, bestehend aus AKP und MHP, darauf setzt, mit den Stimmen der kurdischen Abgeordneten im türkischen Parlament eine dritte Amtszeit für Erdogan durchzusetzen. Bis 2015 war es ja durchaus ein Element der AKP-Politik, die Kurden so weit einzubinden, dass sie gegen andere oppositionelle Kräfte vorgehen können. Es mag durchaus sein, dass das Kalkül der Regierungskoalition darin besteht, die wieder erstarkte Opposition auseinanderzudividieren.
Das Gespräch führte Amir Ali.