Josef S. war Wachmann im KZ Sachsenhausen. Er streitet das ab, aber die Beweislast ist riesig. Gutachter haben Aussagen seiner Familie, Briefe, Dokumente und Fotos akribisch untersucht. Seit letzten Herbst läuft das Verfahren gegen ihn. Der 101-Jährige sitzt im Rollstuhl und hört sich beinahe reglos mit Kopfhörern das Plädoyer des Staatsanwalts an.
Rechtsanwalt Thomas Walther vertritt elf Nebenkläger. Seit Jahren sorgt er dafür, dass die betagten Täter noch zur Rechenschaft gezogen werden. «Die Gnade vor dem Herrn gab es für die alten Menschen in den Lagern nie. Und das Schlimmste ist: Die Gnade in den Lagern für die Neugeborenen gab es erst recht nicht», sagt Walther.
Stimme der Opfer
Wichtiger als ein Strafmass sei es, vor einem deutschen Gericht über diese Verbrechen sprechen können, so Thomas Walther zur Sicht der Opfer: «Jetzt habe ich das für mich selbst als Überlebenden und meine ermordeten Angehörigen endlich sagen können, was in der deutschen Justiz jahrzehntelang niemanden mehr interessiert hat.»
Nach den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg gab es lange kaum mehr solche Verfahren. Historiker Christian Molitor hat sich intensiv mit den NS-Verbrechen auseinandergesetzt. «Es ist bis heute unstrittig, dass wir eine völlig fehlgeleitete Aufarbeitung der Naziverbrechen hatten.»
Viele der Täter wurden zu Stützen der Nachkriegsgesellschaft. Doch die Vergangenheit wurde von Tätern und Opfern verdrängt. Das gibt Josef Schuster zu bedenken. Er ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. «Da man nicht den Mut hatte, sich damit auseinanderzusetzen. Man wollte sich auch nicht damit auseinandersetzen. Man hatte Angst, dass man selbst oder die Familie in Misskredit gerät. Nun gibt es kaum mehr Überlebende, aber auch kaum mehr Täter.»
Es gibt auch juristische Gründe. Über Jahre hinweg versuchte man, den Angeklagten individuelle, konkrete Taten in den Lagern zuzuordnen, Erschiessungen etwa. Das war so gut wie unmöglich. Thomas Will leitet die Zentrale Stelle für die Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Er sagt: «Seinerzeit galten die Überprüfungen der Konzentrationslager in strafrechtlicher Hinsicht als abgeschlossen. Der Vorgang hatte sich über Jahrzehnte entwickelt. Der Fall Demjanjuk war schliesslich der Türöffner, dass wir uns mit der Thematik nochmal neu befasst haben.»
Rechtsanwalt Rajmund Niwinski vertritt ebenfalls Nebenkläger. «Der Umstand, dass man trotz dieser Säumnisse jetzt noch so energisch nachhakt, zeigt, dass der Umgang sehr korrekt ist. Und dass man sich wissend der Kritik aussetzt und diese Verfahren so spät noch führt, ist für mich ein positives Zeichen. Es zeichnet diese Gedenkkultur in Deutschland besonders positiv aus.»
Aufarbeitung weist in die Zukunft
Die Täter zur Rechenschaft ziehen und die Prozesse gegen die letzten Täter dieser grausamen Verbrechen, das sei mit dem Ukrainekrieg aktueller denn je, sagt Rechtsanwalt Thomas Walther: «Wir sprechen über Verbrechen aus den Jahren 1944/45. Gleichzeitig geschehen am gleichen Ort, in Charkiw oder Mariupol, wieder die gleichen Verbrechen. Da drängt es sich absolut auf, dass dies auch ein Menetekel an der Wand für einen Statthalter der Gewalt in Moskau sein könnte.»
Das jahrelange Bemühen von Thomas Walther um die späte juristische Aufarbeitung der NS-Taten weist also auch in die Zukunft.