Seit den Anschlägen vom 7. Oktober und dem Gaza-Krieg ist auch die Situation im israelisch besetzten Westjordanland so angespannt wie seit vielen Jahren nicht. Angriffe von Siedlern auf palästinensische Zivilisten und gewaltsame Konfrontationen zwischen der israelischen Armee und palästinensischen Gruppen häufen sich.
Auch wirtschaftlich ist die Lage prekär. Noch nie in den dreissig Jahren ihres Bestehens sei die Palästinensische Autonomiebehörde so akut in ihrer Existenz gefährdet gewesen wie heute, sagt der Ökonom Moayyad Afaneh. Er arbeitet für diverse Nichtregierungsorganisationen und berät das Wirtschaftsministerium in Ramallah in Wirtschaftsfragen.
Der Regierung im besetzten Westjordanland steht zurzeit nur noch ein Viertel ihres monatlichen Budgets zur Verfügung. Die Folgen sind gravierend, wie Afaneh in einem Café in der palästinensischen Stadt Ramallah erzählt: «Die Autonomiebehörde kann die Renten für Bedürftige und die Löhne für ihre Angestellten nicht mehr bezahlen.» Betroffen sind fast 300'000 Personen: 150'000 Beamte und 120'000 Rentenbezüger.
Wieso fehlt das Geld?
Die Palästinensische Autonomiebehörde finanziert sich zu gut zwei Dritteln durch Zolleinnahmen. Weil das Westjordanland unter israelischer Militärbesetzung ist, hat das Gebiet keine eigenen Häfen oder Flughäfen.
Vor dreissig Jahren, im Rahmen der Osloer Friedensverhandlungen, wurde dafür eine Lösung gefunden: Im «Pariser Protokoll» wurde vereinbart, dass die Ein- und Ausfuhren für die palästinensischen Gebiete über israelische Häfen laufen. Israel zieht Import- und Exportzölle zuhanden der Palästinenser ein und überweist sie an die Autonomiebehörde in Ramallah.
Schon früher hat Israel die Zolleinnahmen als politisches Druckmittel verwendet. Doch seit Januar 2023 ist Bezalel Smotrich israelischer Finanzminister. Er gehört der radikalen Siedlerbewegung an und ist strikt gegen die Errichtung eines unabhängigen Staats Palästina.
Seit vergangenem Jahr überwies Israel nur noch einen Teil der Zolleinnahmen nach Ramallah. Seit April wurden auf Smotrichs Anweisung sämtliche Einnahmen zurückbehalten.
In einem Brief an Regierungschef Netanyahu begründet der Finanzminister Smotrich diese Massnahme damit, dass die Palästinenser «einseitige Schritte» unternähmen, die gegen israelische Interessen verstiessen. Er meint damit die Bemühung, Palästina als unabhängigen Staat anzuerkennen, und die Zusammenarbeit der Palästinenser mit dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.
G7-Finanzminister machen Druck
Dass die palästinensische Behörde wegen des Geldmangels zusammenbrechen könnte, nimmt Smotrich in Kauf. Das könnte jedoch zu Unruhen im Westjordanland führen, wo die Lage ohnehin sehr angespannt ist. Die Finanzminister der G7-Staaten haben Israel nachdrücklich dazu aufgefordert, der Autonomiebehörde keine Steine in den Weg zu legen und die Zolleinnahmen freizugeben.
Unlängst hat sich Smotrich tatsächlich bereit erklärt, einen Teil der Gelder, die den Palästinensern rechtlich zustehen, auszubezahlen. Der Preis dafür: Israel legalisiert fünf Siedlungs-Aussenposten im Westjordanland, plant neue Wohneinheiten im besetzten Gebiet und schränkt die Bewegungsfreiheit einiger hochrangiger palästinensischer Beamter ein. Die Autonomiebehörde bleibt dem Wohlwollen des israelischen Finanzministers ausgeliefert.
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