Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren ertranken vor Lampedusa 566 Menschen. Europa war entsetzt. Entsetzt, weil es nicht länger wegschauen konnte. Denn bis zu diesem Oktober 2013 reagierte Europa nicht auf die Hilferufe Italiens.
Das Dublin-Abkommen hatte den meisten europäischen Ländern einen bequemen Umgang mit dem Migrationsproblem ermöglicht: Flüchtende, die über einen sicheren Drittstaat einreisten, konnten in das Erstaufnahmeland zurückgeschickt werden. Das heisst, Griechenland und Italien waren in der Verantwortung, während in Deutschland, umgeben von sicheren Drittstaaten, die Flüchtlinge buchstäblich vom Himmel fallen mussten, um eine rechtliche Verantwortung Berlins für diese Menschen zu bedingen.
Merkels Fehler
Es folgte die grosse Flüchtlingskrise 2015/16. Bundeskanzlerin Angela Merkel öffnete mit einer grossen humanitären Geste die Grenzen, fand aber keine dauerhafte Lösung. Sie spaltete mit ihrer Politik die EU in Ost und West und beflügelte die Brexit-Befürworter und -Befürworterinnen in Grossbritannien, sodass manche Beobachtende glauben, Deutschlands Flüchtlingspolitik habe dem Brexit zu einer hauchdünnen Mehrheit verholfen. Merkel zwang den EU-Mitgliedstaaten Quoten auf, einen Schlüssel, wie Migrantinnen und Migranten verteilt werden sollten. Die Idee war zwar richtig, aber sie liess sich in der Praxis nie durchsetzen.
Schliesslich einigte sich Europa darauf, den türkischen Präsidenten Erdogan als Türsteher einzusetzen. Europa zahlt Milliarden von Euro, damit die Türkei Millionen von Flüchtlingen aufnimmt. Einen ähnlichen Deal hat die EU in diesem Sommer mit Tunesien abgeschlossen, aber Tunis lässt die Migranten dennoch ziehen.
Auch Italien hat zu wenig getan: Das Migrationsproblem diente bislang vor allem als Wahlkampfschlager. Es gibt nach wie vor zu wenige Aufnahmezentren; unhaltbare Zustände auf Lampedusa sind ein gutes Druckmittel Roms.
Dann folgten Covid und der Ukraine-Krieg, und das Migrationsproblem rückte in den Hintergrund. Aber alle Expertinnen und Experten sagten bereits im letzten Winter das voraus, was jetzt auf Lampedusa passiert.
Reform des Dublin-Systems
Als der Vertrag von Dublin 1990 unterschrieben wurde, waren sich die Signatarstaaten der Konsequenzen nicht bewusst. Und sogar noch für die Nachfolgeregelung Dublin II soll der damalige Premierminister Berlusconi bloss einen untergeordneten Beamten zur Unterzeichnung geschickt haben. Inzwischen ist Dublin III in Kraft, doch es bräuchte eine Reform.
Wie beim Klimawandel ist die Erkenntnis, dass vor allem eine gemeinsame, internationale Anstrengung nötig ist, zu wenig verankert. Die EU-Mitgliedstaaten müssten Migration als europäisches Problem definieren. Wer die griechische oder italienische Grenze überschreitet, kommt nicht nach Griechenland oder Italien, sondern in die EU. Dementsprechend bräuchte es Quoten, nach denen Asylbewerbende auf alle Mitgliedsländer verteilt werden. Und es bräuchte auch effiziente Mechanismen der Rückführungen. Zurzeit werden etwa nur fünf Prozent der Rückschaffungen tatsächlich auch vollzogen.