Ein halbes Jahr ist es her, seit Daryna Anastassiewa in ihre Wohnung nach Kiew zurückgekehrt ist. Sie hatte nach Kriegsbeginn mit ihrer Familie – mit Kindern, Eltern, der Grossmutter – vorübergehend Zuflucht in der Zentralukraine gefunden. Doch dann wollte sie unbedingt wieder nach Hause.
Für die Grossmutter war das Hin und Her zu viel: Ihr geistiger Zustand habe sich nach der Rückkehr verschlechtert, erzählt die 34-jährige Daryna Anastassiewa. Dazu kamen körperliche Beschwerden.
Schliesslich starb die Grossmutter Ende Oktober an einem Schlaganfall. «Ihr Leben hatte in einem grossen Krieg – dem Zweiten Weltkrieg – begonnen. Und es endete im Schrecken eines weiteren grossen Kriegs», so Daryna Anastassiewa.
Auch während des Begräbnisses heulten die Sirenen.
Sie habe sich nicht von der Grossmutter verabschieden können: «Als sich ihr Zustand verschlechterte, herrschte in der Stadt Luftalarm, und ich konnte nicht ins Spital fahren. Und auch während des Begräbnisses heulten die Sirenen.»
Die Familie schaffte es, sich zu einem gemeinsamen Essen zu versammeln – in einem Restaurant ohne Heizung und elektrisches Licht und mit kalten Speisen. Aber immerhin waren sie alle zusammen.
Ein möglichst normales Leben in Kiew
Trotz der wiederholten Raketen- und Drohnenangriffe in Kiew versuchten die Menschen, ein einigermassen normales Leben zu führen, sagt Daryna Anastassiewa. Seit September gehen ihre Kinder wieder zur Schule. Das sei möglich, weil es in der Schule einen Luftschutzbunker gibt.
Es gibt dann kein Licht, keine Heizung, kein heisses Wasser, kein Internet.
Doch die andauernden russischen Angriffe auf die kritische Infrastruktur haben massive Auswirkungen im Alltag. Der Strom fällt stundenlang aus. «Dann gibt es in unserem Wohnblock nicht nur kein Licht, sondern auch keine Heizung, kein heisses Wasser, kein Internet.» Und auch das Mobilfunknetz breche wegen Überlastung zusammen.
Um die Kinder bei Stromausfall zu beschäftigen, hat Daryna Anastassiewa mit ihnen Kerzen hergestellt. Das habe den Kindern grossen Spass gemacht, erzählt die junge Frau. Und auch die anderen analogen Tätigkeiten wie Schach spielen, musizieren, Bücher lesen hätten ihnen gefallen.
Das alles erinnere sie auch an ihre Kindheit in der ostukrainischen Stadt Donezk: Die 1990er-Jahre seien schwierig gewesen, da habe es oft auch keine Heizung gegeben. Deshalb komme bei ihr schon fast so etwas wie Nostalgie auf, sagt Daryna Anastassiewa.
Raketentrümmer aufs Wohnquartier
Zum Gesamtbild gehört aber auch, dass in der Wohnung von Daryna Anastassiewa auch bei einem Stromausfall das Gas weiter fliesst. Sie kann damit kochen, Wasser aufheizen und Licht erzeugen. Das immerhin ist eine grosse Erleichterung.
Doch schwer ist es, wenn es buchstäblich Raketen regnet, wie am 15. November. Damals schossen die Russen rund hundert Raketen auf Kiew. Zwar wurde der Grossteil davon von der ukrainischen Luftabwehr abgeschossen. Doch einige Trümmer seien auf das Quartier niedergegangen, in dem sie wohne, erzählt Daryna Anastassiewa. Ihre Kinder und Eltern hätten sich zu der Zeit dort aufgehalten. «Es ist das Schlimmste, wenn man sich in einem solchen Moment an einem anderen Ort aufhält als der Rest der Familie», sagt sie.
Alles andere an der Kriegssituation mache ihr schon nicht mehr viel aus. Was auch immer sich die Russen ausdenken würden: Die Ukrainer würden es aushalten. Und sie fügt an: «Wir sind frei. Und wir werden siegen.»