Die Lebensmittelversorgung in Grossbritannien stehe auf «Messers Schneide», schreibt die Chefin des britischen Bauernverbandes in einem Brief an Premier Boris Johnson. Sie fordert unter anderem Notfallvisa, um die nötigen ausländischen Arbeitskräfte rekrutieren zu können. Was steckt hinter dem Hilferuf und wie dramatisch ist die Lage?
«Viele Regale sind tatsächlich halbleer. Das habe ich letzte Woche in Schottland erlebt, und das ist auch das Bild in London», berichtet SRF-Grossbritannien-Korrespondent Patrik Wülser. So dramatisch sei die Lage aber noch nicht, und niemand müsse aufgrund der Engpässe hungern. Doch die augenscheinlichen Versorgungslücken beunruhigten und irritierten die Menschen.
Keine Fahrer – keine Lieferungen
Es sei die Verkettung von kleineren und grösseren Versäumnissen und Unterlassungen, die sich nun auf den Regalen der Lebensmittelläden widerspiegle, stellt Wülser fest. Dabei fehle es eigentlich nicht an Waren, sondern an Transportkapazitäten – beziehungsweise Lastwagenfahrern und -fahrerinnen: Eine Arbeit, die bei miserablen Löhnen von umgerechnet 25'000 bis 35'000 Franken vor allem Leute aus Osteuropa machten.
Doch viele Chauffeure gingen während der Pandemie in die Heimat zurück und kamen nicht wieder. In der Zwischenzeit wurden virusbedingt weniger Lastwagenprüfungen absolviert und keine neuen Fahrer rekrutiert. Diese fehlen nun. Zugleich weigert sich insbesondere die Innenministerin, neue Arbeitsvisa auszustellen. «Das alles führt nun dazu, dass nicht genügend Waren ausgeliefert werden können», erklärt Wülser.
Viele Chauffeure gingen während der Pandemie in die Heimat zurück und kamen nicht wieder.
Der Chauffeurmangel führt auch dazu, dass vereinzelt Tankstellen geschlossen werden mussten. An Diesel und Benzin fehlt es nicht. Betroffen sind bisher laut Wülser landesweit erst rund 100 Tankstellen: «Aber die Regierung befürchtet, dass Hamsterkäufe dann tatsächlich zu Treibstoffengpässen führen könnten.»
Mit der Erhöhung der Gaspreise um 250 Prozent wird der Alltag der britischen Konsumentinnen und Konsumenten zugleich noch etwas ungemütlicher. Die meisten Haushalte heizen mit Gas und sind nun mit exorbitanten Rechnungen konfrontiert. Besonders für Familien mit kleinen Einkommen wird das mit Blick auf die Wintermonate kritisch.
Brexit ist nicht an allem schuld
Auch wenn die Brexit-Frage täglich gestellt werde, so könne nicht jedes Problem dem Austritt aus der EU angelastet werden, bilanziert Wülser: So sei Gas etwa zurzeit in weiten Teilen Europas knapp. Doch dass britische Ölplattformen in der Nordsee ausgerechnet jetzt revidiert würden, habe nichts mit dem Brexit zu tun. Für den Mangel an Lastwagenchauffeuren sei aber tatsächlich die neue Einwanderungspolitik verantwortlich.