«Jin, Jiyan, Azadî» («Frau, Leben, Freiheit!»): Durch den Iran hallte im letzten Herbst der Aufschrei einer ganzen Generation. Was als Kritik an der Sittenpolizei und den islamischen Kleidervorschriften begann, wuchs sich zu einer landesweiten Protestwelle aus. Das Regime reagierte mit eiserner Faust: Zur blutigen Niederschlagung der Proteste kam bald auch die Hinrichtung von Demonstranten.
Eine solche «Mobilisierung» ist in den Gotteshäusern des Landes allerdings nicht zu sehen. Im Gegenteil: Laut einem Bericht der iranischen Zeitung «Enthehab» beklagen sich iranische Geistliche über leere Moscheen. Mehr als zwei Drittel aller Gotteshäuser seien geschlossen.
In ihrem Artikel ging die Zeitung mit ungewöhnlich kritischem Blick auf die mögliche Ursache der Schliessungen ein. Sie zitierte etwa einen schiitischen Gelehrten aus der religiösen Hochburg Ghom, der eine allzu grosse Einmischung der Politik in die Religion beklagte. «Einer der Gründe für die Schliessung von Moscheen ist, dass diese zum Stützpunkt bestimmter Gruppierungen und der Politik geworden sind.»
Katharina Willinger ist Korrespondentin der ARD für den Iran. Sie bestätigt den Eindruck des Geistlichen. Zwar gebe es im Land durchaus gläubige Menschen, die grundsätzlich Gotteshäuser besuchen möchten. Viele von ihnen hätten sich aber abgewandt: «Denn für sie sind die Moscheen so durch das Regime ideologisiert, dass sie dort nicht mehr ihren persönlichen Glauben ausüben.»
Seit Jahrzehnten habe das Regime versucht, die Moscheen im Land regelrecht zu unterwandern, so die Korrespondentin. Im Umfeld der Moscheen organisierte es Korankurse für Frauen, Gemeindeaktivitäten oder Grillfeste – und siedelte dort auch die berüchtigten Basidsch-Milizen an, die wiederholt an der Niederschlagung von Protesten im Land beteiligt waren. So auch im Herbst.
Mittlerweile besuche im Iran nur noch eine klare Minderheit der Menschen die Moscheen, schätzt Willinger. Das zeige sich auch an den Freitagsgebeten: «Dort versammeln sich vor allem Mitglieder des Regimes, insbesondere die Basidschis und ihre Familien.» Dazu kommen Beamte oder Basaris, die Geschäfte mit dem Regime und der mächtigen Revolutionsgarde machen.
Im Islam gibt es den Ausspruch: ‹Der Islam ist die Lösung›. Für viele der Menschen ist er aber inzwischen Teil des Problems.
Der schiitische Islam ist seit der Revolution von 1979 Staatsreligion im Iran. Ein Meinungsforschungsinstitut in den Niederlanden kam 2020 bei der Befragung von Zehntausenden Iranern und Iranerinnen zum Schluss, dass etwa die Hälfte der Landesbewohner sich im Lauf ihres Lebens vom Glauben abgewendet hat.
Für die Korrespondentin folgt das einer Logik. «Denn die Religion wird den Menschen regelrecht aufgezwungen.» Der Staat stütze sich auf die Scharia und spreche Zwänge und Verbote aus. «Dieser Druck hat bei den Menschen über die Jahre das komplette Gegenteil bewirkt.»
Der Gelehrte forderte in dem Zeitungsbericht, dass die Moscheen wieder zu einem Ort der Spiritualität und des Glaubens werden sollen. «Wenn die Regierung die Moscheen nicht unterstützen und sich nicht in ihre Angelegenheiten einmischen würde, wären unsere Moscheen heute wahrscheinlich nicht leer.»
Umkehren lässt sich die Entwicklung für die deutsche Journalistin aber kaum mehr. Denn für viele Iranerinnen und Iraner sei der Islam inzwischen der Inbegriff des Regimes. «Im Islam gibt es den Ausspruch: ‹Der Islam ist die Lösung›. Für viele der Menschen ist er aber inzwischen Teil des Problems.»