Seit Mitte September demonstrieren die Menschen in Iran – gegen die Kleidervorschriften für Frauen und das islamische Regime überhaupt. Die ARD-Korrespondentin Katharina Willinger konnte die Hauptstadt Teheran besuchen. Was sie dort erfahren hat, schildert sie im Interview.
SRF News: Haben Sie in Teheran noch Protestkundgebungen beobachtet?
Katharina Willinger: Nein. Aus anderen Regionen – wie den Kurdengebieten – hört man allerdings immer wieder von Protesten.
Sahen Sie andere Formen des Protests?
Ja, definitiv. Der Protest ist im Alltag der Iranerinnen und Iraner angekommen. Das zeigt sich etwa in Graffitis an vielen Hauswänden. Dort stehen regimekritische Slogans wie «Nieder mit der islamischen Republik» oder «Tod dem Diktator».
Viele Frauen in Teheran tragen kein Kopftuch mehr – eine sehr mutige Form des Protests.
Auch wenn die Sprüche vielerorts umgehend übermalt werden, sind sie an jeder dritten oder vierten Hauswand zu sehen. Ausserdem tragen viele Frauen in Teheran kein Kopftuch mehr. Das ist eine sehr mutige Form des Protests, denn nach wie vor wird dieses Vergehen von der Justiz geahndet und bestraft.
Ist die Sittenpolizei, die stets für die Einhaltung des Kopftuchzwangs gesorgt hat, denn nicht mehr präsent in den Strassen?
Ich habe die Sittenpolizei nie gesehen. Es wurde mir auch bestätigt, dass sie in den letzten Wochen nicht mehr auf der Strasse unterwegs war. Offenbar versucht das Regime, die Situation zu beruhigen, es will kein Öl ins Feuer giessen und einen neuen Fall wie jenen von Jina Mahsa Amini verhindern, der zu den Protesten geführt hatte.
Die Frauen befürchten, dass sie mithilfe digitaler Gesichtserkennungsprogramme zur Rechenschaft gezogen werden könnten.
Doch die Frauen, mit denen ich gesprochen haben, sagten mir, sie fühlten sich überhaupt nicht sicher. Sie sind überzeugt, dass der derzeitige Zustand bloss eine vorübergehende Taktik des Mullah-Regimes ist. Sie fühlen sich beobachtet durch Überwachungskameras und befürchten, dass sie eines Tages mithilfe digitaler Gesichtserkennungsprogramme zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Das aber hiesse: Es würde sich bloss die Form der Repression ändern – mit dem gleichen Ziel: Die Frauen in ihrer Freiheit zu beschneiden.
Wie frei konnten sie in Teheran arbeiten?
Es war sehr schwierig – zum einen, weil ich wusste, dass ich die Menschen, mit denen ich sprach, in Gefahr brachte. Wir wussten, dass wir ständig überwacht werden. Ich versuchte also, Frauen auf der Strasse spontan anzusprechen, ohne die Kontaktdaten auszutauschen.
Die Frauen haben grosse Angst vor dem Regime – trotzdem hoffen sie auf einen Systemwechsel.
Dabei wurde klar: Die Frauen in Teheran fühlen sich völlig verunsichert und nicht frei. Sie haben grosse Angst vor dem Regime, das mit grosser Gewalt und Hinrichtungen zurückgeschlagen hat. Trotzdem hoffen sie auf eine Änderung in Iran und dass die Proteste weitergehen, denn sie wollen einen Systemwechsel.
Es ist also weiterhin eine revolutionäre Stimmung vorhanden?
Ich denke schon. Denn zum Protest gehört nicht nur das, was sich auf den Strassen abspielt, sondern auch das, was in den Köpfen der Menschen vorgeht. An den Protesten in den letzten Wochen haben sich viele sehr junge Menschen beteiligt.
Ein solches System hat auf Dauer keine Zukunft.
Sie haben nie etwas anderes erlebt als das Mullah-Regime, sie sind indoktriniert durch das islamische Bildungssystem und von den Staatsmedien – und trotzdem stellten sie sich mit grosser Wut und Hass gegen das System. Ein solches System hat auf Dauer keine Zukunft – auch wenn niemand abschätzen kann, wann es tatsächlich am Ende ist.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.