In Melbourne gelten wieder strenge Ausgangsbeschränkungen. Der Lockdown in der zweitgrössten australischen Stadt soll für mindestens sechs Wochen gelten. Damit reagieren die Behörden auf 127 Neuinfektionen im Bundesstaat Victoria, dessen Hauptstadt Melbourne ist, innerhalb eines Tages. Laut SRF-Mitarbeiter Urs Wälterlin ist Fahrlässigkeit für den Corona-Ausbruch verantwortlich.
SRF News: 127 Neuinfektionen im ganzen Bundesstaat Victoria hört sich nicht nach extrem vielen Fällen an. Warum dieser strenge Lockdown für eine Grossstadt-Region mit fünf Millionen Einwohnern?
Urs Wälterlin: Ich habe selten so viel Angst auf einem Gesicht eines Politikers gesehen wie heute auf jenem des Regierungschefs von Victoria, Daniel Andrews. Er und seine Wissenschaftler sagen, dass nur ein sehr harter Lockdown von sechs Wochen das Virus in Schach halten kann. Das wird vielen Geschäften zweifellos das Genick brechen.
Weshalb wird der Lockdown geografisch auf Melbourne und ein Gebiet nördlich der Millionenmetropole beschränkt?
Betroffen von den neuen Infektionen sind vor allem die Stadtgebiete. Auf dem Land ist die Lage bedeutend weniger dramatisch. Besonders gefährlich ist die Situation in mehreren Hochhäusern, in denen Tausende Menschen auf engem Raum in Sozialwohnungen leben. Das sei wie auf einem vertikalen Kreuzfahrtschiff, sagte Regierungschef Andrews.
Die Polizei bewacht die Hochhäuser. Das weckt bei manchen Bewohnern, die aus Kriegsgebieten kommen, schlimme Erinnerungen.
Unter den Bewohnern sind viele ehemalige Flüchtlinge sowie Migranten. Für sie ist die Situation extrem schwierig, weil sie nicht einmal die Wohnung verlassen dürfen. Dies im Gegensatz zu den Einwohnern in anderen Quartieren. Die Bewohner der Hochhäuser werden jetzt von Hilfsorganisationen mit dem Nötigsten versorgt. Ausserdem bewacht die Polizei diese Häuser, was bei manchen Bewohnern, die aus Kriegsgebieten kommen, schlimme Erinnerungen weckt.
Warum wird ausgerechnet Victoria zu einem Corona-Hotspot in Australien?
Offenbar wegen Fahrlässigkeit. In einem Quarantäne-Hotel für aus dem Ausland Einreisende sollen sich Wachleute nicht an die Sicherheitsvorschriften gehalten haben. Sie haben sich angesteckt und das Virus in der Bevölkerung verbreitet.
Wie beurteilen die Australierinnen und Australier das Krisenmanagement der Behörden?
Die Menschen in Melbourne zeigen eine erstaunlich grosse Akzeptanz für den neuen Lockdown – wie ich aus dem Radio erfahre. Daneben gibt es pure Verzweiflung: Viele Geschäfte müssen nach wenigen Tagen wieder schliessen. Vor allem kleinere Geschäfte und Restaurants haben zu kleine finanzielle Reserven, um das durchzustehen. Sie werden untergehen.
Gestern landete ein Flugzeug in Sydney, ohne dass die Passagiere zur Selbstquarantäne angehalten wurden.
Australien verzeichnet bislang etwas mehr als 100 Menschen, die mit oder an Corona verstorben sind – und das bei 25 Millionen Einwohnern. Droht jetzt eine zweite, schlimmere Infektionswelle?
Die Politiker versuchen, den Begriff der zweiten Welle nicht zu nennen. Doch ausschliessen können sie eine solche nicht. Die grösste Gefahr ist dabei Fahrlässigkeit: So wurde jetzt bekannt, dass gestern ein Flugzeug in Sydney landete, ohne dass die Passagiere von den Gesundheitsbeamten zur Selbstquarantäne angehalten wurden. Das Flugzeug kam aus Melbourne.
Das Gespräch führte Andrea Christen.