Er erschien am Weltwirtschaftsforum WEF in Davos, wie wir ihn kennen: mit dunklem Pullover, olivgrüner Hose, meist ernster Miene und Bart. Die Rede ist vom ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski. So entsteht der Eindruck, Selenski wolle ein Bild von Männlichkeit und militärischer Stärke vermitteln.
Noch ganz anders war sein Auftritt am WEF vor vier Jahren gewesen. Damals hielt der ukrainische Präsident seine Rede im Anzug und frisch rasiert. Auch in seiner bis 2019 laufenden Fernsehserie «Diener des Volkes» vermittelte Selenski ein jugendlicheres Bild und machte sich mehrfach über klassische Männlichkeit lustig.
Heike Paul, Kulturwissenschaftlerin und Amerikanistin an der Universität Erlangen-Nürnberg, sieht in der Wandlung Selenskis aber andere Motive. Eine Reduktion auf den Wunsch, mehr Männlichkeit auszustrahlen, wäre laut Paul zu einfach und falsch. «In erster Linie bedient er die Erwartung an ihn in seiner Funktion.» Als Präsident in Kriegszeiten wolle Selenski dem ukrainischen Volk vermitteln: Ich bin einer von euch. Zudem zeigt Selenski dem Westen immer wieder, dass er auf dessen Hilfe angewiesen ist. Womit Selenski laut Paul dem Westen seine eigene Verletzlichkeit aufzeigt. Also alles andere als klassisch männlich.
Krisen bringen in der Gleichstellung oft Rückschritte
Doch auch Paul sieht die Tendenz, dass im Ukraine-Krieg ein klassisches Rollenbild vermittelt wird. Auch die Medien tragen ihren Teil dazu bei, indem sie sich bei ihrer Berichterstattung dieses Rollenbildes bedienen. Folgendes ist gemeint: Männer tragen Uniform und kämpfen heroisch, Frauen und Kinder sind in der Opferrolle und flüchten vor dem Krieg. Zu einem gewissen Grad stimmt das Bild auch: An der Front kämpfen mehrheitlich Männer und unter den Geflüchteten sind Frauen und Kinder übervertreten, auch weil die meisten Ukrainer das Land nicht verlassen dürfen. Es ist aber nur die halbe Wahrheit, denn es gibt viele Gegenbeispiele.
Kriege und Krisen sind immer auch Phasen, in denen sich Frauen von klassischen Rollen emanzipieren konnten.
Dass viele Paare während Kriegen und Krisen in eine klassische Rollenverteilung verfallen, belegen auch Studien aus der Zeit der Corona-Pandemie. Während dem Lockdown waren Frauen überdurchschnittlich oft von einer Reduktion des Arbeitspensums betroffen. Mütter übernahmen im Lockdown auch mehr Kinderbetreuung und Hausarbeit als Väter. Dies führte schliesslich zu einer starken Unzufriedenheit bei ihnen und legt den Schluss nahe, dass nicht alle Reduktionen der Wunsch der Frauen waren.
Deshalb ist es wichtig, auf gegenteilige Entwicklungen zu achten und diese hervorzuheben, damit die Öffentlichkeit diese stärker wahrnimmt und so Rollenbilder durchbrochen werden können. Denn laut Paul gibt es diese auch in Kriegszeiten. «Kriege und Krisen sind immer auch Phasen, in denen sich Frauen von klassischen Rollen emanzipieren konnten.» Dies, weil die Frauen bestimmte Funktionen aufgrund der Kriegsabwesenheit der Männer einnehmen mussten, die zuvor klassischerweise Männer innehatten.