2013 fängt alles an. Chrystia Freeland wird ins kanadische Parlament gewählt, ohne jede politische Erfahrung. In nur wenigen Jahren wird sie sich im Zentrum der Macht wiederfinden. Dabei deutete nichts auf eine politische Karriere hin. Freeland studierte im Ausland. Sie wurde eine erfolgreiche Journalistin in Moskau und New York und schrieb ein Buch über Superreiche; die ungleiche Verteilung von Vermögen, über die Nöte des Mittelstands.
Ein junger kanadischer Politiker war tief beeindruckt: Justin Trudeau. Er wollte seine linksliberale Partei zurück an die Macht führen. Und er wollte Freelands Hilfe. Der kanadische Politologe Nelson Wiseman sagt über sie: «Freeland hatte international einen guten Ruf im Finanzbereich und als Journalistin, sie war ein guter Fang. Sie verlieh Trudeau Glaubwürdigkeit. Er rekrutierte sie im Ausland und versprach ihr quasi einen Regierungsposten.»
Spitze von drei Ministerien
2015 gewann seine Partei spektakulär die Parlamentswahlen. Freeland wurde Handelsministerin. In Europa fiel sie erstmals auf, als Kanadas Freihandelsabkommen mit der EU zu scheitern drohte – in Belgien am Widerstand des wallonischen Parlaments. Sie sei schwer enttäuscht, erklärte eine erschöpfte Freeland in Brüssel unter Tränen. Immerhin könne sie jetzt heimkehren zu ihren drei Kindern. Am Ende kam das Abkommen doch zustande. Aber der echte Test stand noch bevor.
Freeland hatte international einen guten Ruf im Finanzbereich und als Journalistin. Sie verlieh Trudeau Glaubwürdigkeit.
In den USA versprach der neue Präsident Donald Trump, er werde das nordamerikanische Freihandelsabkommen Nafta beseitigen. Für Kanada ging es um die Wurst. Rund drei Viertel der Exporte gehen in die USA. Freeland, jetzt Aussenministerin, sollte mit Washington ein neues Abkommen aushandeln. Trudeau und Trump überwarfen sich bald öffentlich.
Freeland aber verhandelte hinter den Kulissen monatelang weiter und brachte ein neues Abkommen zurück nach Ottawa. Seit einer ganzen Generation habe keine Ministerin, kein Minister mehr so eine schwierige Aufgabe zu lösen gehabt, sagte Trudeau. Der Premier kommt seither nicht mehr aus ohne sie.
Trudeau gibt nur Worthülsen von sich. (...) Freeland hat Substanz.
Er machte sie zur Vize-Premierministerin. Als das Coronavirus zuschlug, wurde Freeland bald Finanzministerin, als erste Frau in Kanada. Man dürfe die Fehler von 2009 nicht wiederholen, dürfe wirtschaftliche Not nicht gären lassen. Das könne die Demokratie gefährden. Das werde Kanada nicht zulassen, sagte Freeland, als sie kürzlich ihr Budget präsentierte.
Kompetenter als Trudeau
Es sieht enorme Ausgaben vor und ein enormes Defizit. Damit will Freeland das Land aus der Pandemie führen. Längst hat sie den Beinamen «Minister of Everything», Ministerin für alles. In Sachen Kompetenz übertreffe sie Trudeau bei weitem, sagt der Politjournalist Robert Fife von der Zeitung «The Globe and Mail». «Trudeau gibt nur Worthülsen von sich. Freeland kann sich intelligent und kompetent zu politischen Inhalten äussern. Sie hat Substanz.»
Trudeaus Image ist beschädigt von diversen Skandalen. Sie hat sich bisher keine Misstritte geleistet. Einzig mit Trudeaus Ausstrahlung könne sie nicht mithalten. «Sie hat überhaupt kein Charisma. Sie ist wie Angela Merkel, taff, aber nicht aggressiv. Keine Wichtigtuerin, dafür eine Macherin», sagt Fife.
Noch sitzt Justin Trudeau fest im Sattel. Wenn er dereinst abgelöst wird, schlägt aber vielleicht Chrystia Freelands grosse Stunde. Kompetent genug wäre die 52-Jährige. Daran zweifelt in Kanada kaum jemand.