Nach knapp acht Monaten tritt der Krieg in der Ukraine in eine neue Phase ein. Die fallenden Temperaturen dürften beide Seiten über die kommenden Monate vor Herausforderungen stellen. Der Sicherheitsanalyst Niklas Masuhr vom Center for Security Studies an der ETH Zürich erläutert die Situation.
SRF News: Wo steht das Kriegsgeschehen zurzeit?
Niklas Masuhr: Seit der russischen Einnahme von Sjewjerodonezk im Juni ist das russische Momentum gebrochen. Moskau ist zurzeit wohl kaum mehr zu substanziellen Offensiven imstande. Die Ukrainer hingegen blicken auf eine Reihe von Erfolgen zurück. Dabei gilt zu beachten: Sowohl im Norden als auch im Süden taten sie dies gegen einen geschwächten Gegner.
Zu keinem Zeitpunkt trafen sie auf eingegrabene, organisierte russische Einheiten. Und auch vor Angriffen auf Städte sehen sie bislang ab, denn sie wissen: Dort ist der Gegner am stärksten und die möglichen militärischen und zivilen Verluste am höchsten.
Inwiefern spielt der nahende Winter eine Rolle?
Die beschriebene Dynamik wird sich wohl kaum ändern. Grundsätzlich kann man sagen, dass bei grossen Operationen das Wetter immer eine Rolle spielt. Die angreifende Seite braucht feste Böden, damit man nicht nur auf die Strassen beschränkt ist.
Ein Blick in die Vergangenheit und die Feldzüge Napoleons und Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg zeigen den Einfluss des berühmt-berüchtigten russischen Winters. Es gibt für diese Wochen im Herbst und Frühling sogar ein russisches Wort «Rasputiza» (dt. «Schlammzeit»). Die tiefen Temperaturen im Winter wirken sich zudem auf die Truppen aus. Alles dies macht grosse Angriffe in den kommenden Wochen und Monaten eher unwahrscheinlich.
Welchen Einfluss werden die 300'000 neuen russischen Rekruten haben?
Keinen grossen. Man muss wissen: Das russische Militär kennt keine eigentliche Rekrutenschule. Ich gehe davon aus, dass die Teil-Mobilmachung militärisch eher dafür gedacht ist, die Front zu verstärken bzw. Rotationen möglich zu machen.
Kommt das Kriegsgeschehen nun also zum Stillstand?
Grosse Operationen werden auf jeden Fall sehr viel weniger effizient. Und darum schliesst sich das Fenster für die Ukraine, weiterhin erfolgreich Angriffe durchzuführen, wohl. Andererseits ist die Ukraine ein grosses Land: Das Wetter im Norden ist nicht unbedingt das gleiche wie im Süden.
Die Russen erstellen derzeit Befestigungen wie im Zweiten Weltkrieg.
Dass der Winter einen positiven Einfluss auf die russische Seite haben wird, bezweifle ich aber. Viele der Verträge der Berufssoldaten wurden unter Zwang verlängert und mit den neuen Rekruten dürften die Standards dramatisch sinken. Man gräbt sich ein, und im besten Fall kann man so die Frontlinie stabilisieren. Die Bilder, die uns aus der Ostukraine erreichen, deuten genau darauf hin. Da sind zum Teil Befestigungen zu sehen wie aus den Zeiten des Zweiten Weltkriegs.
Wird die russische Seite jetzt noch stärker auf Raketen- und Artilleriebeschuss setzen?
Die Schläge von Anfang Woche werden sich wohl nicht dauerhaft wiederholen. Der Kreml hatte die Krim-Brücke zuvor als «kulturell wichtig» eingestuft und damit nach innen den Boden für eine Rechtfertigung eines Gegenangriffes gegen zivile Ziele gelegt. Die Präzisionswaffen, die dabei zum Einsatz kamen, sind ausserdem sehr teuer und eigentlich zu wertvoll für den Einsatz gegen Kulturgüter.
Die Ukrainer werden weiterhin auf lokal begrenzte Offensiven setzen.
Doch eines ist auch klar: Russland wird grundsätzlich mit dem Beschuss ukrainischer Städte weitermachen, wie seit Beginn des Krieges. Auch die Ukrainer dürften tendenziell bei ihrem bisherigen Modus Operandi bleiben und auf lokal begrenzte Offensiven gegen geschwächte Frontabschnitte setzen. Und auch die sehr erfolgreichen HIMARS-Schläge auf die russische Logistik dürften anhalten. Eine substanzielle Veränderung dieser Dynamik ist wohl nur möglich, wenn es zu einem Kollaps der russischen Truppen käme.
Das Gespräch führte Patrick McEvily