Es ist Frühmorgens. Im kenianischen Bergdorf Iten sind auf allen Nebenstrassen kleine Gruppen von Läuferinnen und Läufern unterwegs. Schlammbespritzte Laufschuhe stehen vor vielen Türen, der nächtliche Regen hat den Erdweg rutschig gemacht. In Iten, am Rande des Grossen Afrikanischen Grabenbruchs, auf 2400 Meter Höhe wird Weltklasse geformt.
David Rudisha, zweifacher Olympiasieger, hat hier trainiert. Ebenso Lornah Kiplagat, Weltrekordhalterin im Halbmarathon. Ein Tor begrüsst die Ankommenden: «Home of Champions».
In dieser Atmosphäre trainierte auch die ugandische Läuferin Rebecca Cheptegei. Bis zum Sonntag, dem 1. September. Während Rebecca Cheptegei die Kirche besuchte, holte sich ihr Partner, Dickson Ndiema, beim Nachbarn ein Feuerzeug und wartete im Haus. Kurz nachdem Cheptegei mit ihren zwei Töchtern heimgekommen war, hörte die Nachbarin plötzlich Schreie. Cheptegei rannte aus dem Haus – ihre Kleider und Haare in Flammen. Die Nachbarin versuchte mit Bananenblättern, das Feuer zu löschen.
Dickson Ndiema trat mit einem Eimer heraus. «Wir dachten, er würde Wasser über sie giessen, aber es war noch mehr Benzin», sagt Nachbarin Agnes Barbara. Rebecca rannte die Strasse entlang zu einem entfernten Nachbarn und sprang in dessen Entenbecken. Der Nachbar band sie dann mit Schnüren an einen Motorradfahrer, der sie ins Spital brachte. Vier Tage später starb sie dort. Auch Dickson Ndiema erlag seinen Verbrennungen, die er sich beim Angriff auf Cheptegei zugezogen hatte.
Cheptegeis Mord steht nicht allein: Sie ist bereits die dritte Läuferin, die in Iten trainierte und Opfer von Gewalt wurde – so wie Agnes Tirop im Jahr 2021 und Damaris Mutua 2022.
Erfolg als Gefahr
In Iten bringt sportlicher Erfolg oft Risiken mit sich, besonders für Frauen, die schnell an die Weltspitze gelangen. Sie werden oft zur Zielscheibe von Männern, die weniger an Romantik interessiert sind als an finanziellen Vorteilen. In Kenia, wo das Jahreseinkommen durchschnittlich 1’800 Dollar beträgt, kann der Erfolg von Läuferinnen wie Rebecca Cheptegei oder Agnes Tirop ihre Einkommensverhältnisse radikal verändern. Viele von ihnen verdienen ein Vielfaches des Durchschnitts. Das macht sie für Männer attraktiv, die an ihrem Wohlstand interessiert sind.
Grace Loibach, eine aufstrebende Läuferin, hat in Iten ähnliche Erfahrungen gemacht: «Wenn ein Mann sieht, dass du mehrere Rennen gelaufen und immer unter den Top Drei bist oder manchmal gewinnst, versucht er, dir näherzukommen.»
Viele Männer geben sich als Trainer oder Physiotherapeuten aus, um das Vertrauen der Frauen zu gewinnen. «Man sollte auf sein Vermögen achten und auch in der Ehe vorsichtig sein», mahnt sie.
Rebeccas Partner, Dickson Ndiema, gab vor, Fitnesstrainer zu sein, obwohl er keine offizielle Lizenz hatte. Ihr Lauftrainer Alex Malinga, der sie bereits in ihrer Jugend betreut hatte, erklärt, dass Ndiema erst nach Rebeccas ersten grossen Rennerfolgen im Jahr 2022 in ihr Leben trat. Malinga bedauert, dass sie auf jemanden hereingefallen sei, der sich als Trainer ausgab. «Leider geriet sie an jemanden, der vorgab, ein Coach zu sein», sagt er und fügt hinzu, dass Ndiema versucht habe, von ihr zu profitieren, indem er behauptete, sie schulde ihm etwas, weil sie durch ihn Erfolg gehabt habe.
Joan Chelimo, selbst eine erfolgreiche Läuferin, kennt die Dynamiken, die sich in Iten entfalten, ebenfalls aus erster Hand. Gemeinsam mit anderen Athletinnen gründete sie die Organisation Tirop's Angels.
Athletinnen, die finanziell unabhängig werden, gehen gegen die traditionellen Rollenbilder an, in denen Frauen nur für Hausarbeit und Kinder zuständig sind.
Sie lebte nur 200 Meter von der Läuferin Agnes Tirop entfernt, die 2021 von ihrem Ehemann erstochen wurde. Chelimo erklärt: «Athletinnen, die finanziell unabhängig werden, gehen gegen die traditionellen Rollenbilder an, in denen Frauen nur für Hausarbeit und Kinder zuständig sind. Das macht sie verletzlich für Missbrauch und Gewalt.» Deshalb versucht sie seither durch Initiativen wie Tirop's Angels und Protestbewegungen, das Bewusstsein in der Gesellschaft zu schärfen und für den Schutz der Frauen zu kämpfen. «Wir wollen nicht, dass so etwas noch einmal passiert – weder einer Athletin noch einer Frau aus einem Dorf,» sagt Chelimo entschlossen.
Gewalt gegen Frauen: Ein landesweites Problem
Die Gewalt gegen Frauen ist in der Region allgegenwärtig. Zwischen 2017 und 2024 wurden laut einer Studie von «Africa Uncensored» etwa 500 Frauen in Kenia ermordet. Trotz Fortschritten wie dem Sexual Offences Act von 2006 und der Einrichtung von Gender-Desks in Polizeistationen bleibt die Umsetzung oft unzureichend – so auch im Fall von Rebecca Cheptegei.
Wir haben die Polizei immer wieder um Hilfe gebeten, doch sie haben zu lange gezögert. Ich gebe der Polizei die Schuld, dass sie nicht rechtzeitig gehandelt hat.
Kurz vor ihrem Tod hatte sie ihren Partner bei der Polizei angezeigt, da er ihr das Haus und ein Stück Land streitig machen wollte. Doch die Polizei besuchte Rebecca Cheptegeis Grundstück erst nach ihrem Tod. Ihr Vater, Joseph Cheptegei, äussert bittere Enttäuschung über das Versagen der Behörden: «Wir haben die Polizei immer wieder um Hilfe gebeten, doch sie haben zu lange gezögert. Ich gebe der Polizei die Schuld, dass sie nicht rechtzeitig gehandelt hat.»
Häusliche Gewalt bleibt häufig verborgen, gilt als Privatsache und wird von der Gesellschaft kaum geahndet. In Fällen wie dem der Läuferin Agnes Tirop bleiben die Täter oft auf freiem Fuss, während die Familien der Opfer mit ihrem Schmerz allein gelassen werden.
Aktivistinnen und Aktivisten fordern immer lauter eine nationale Erklärung des Notstands gegen Femizide. Sie fordern strengere Strafen und besseren Schutz für gefährdete Frauen, besonders für jene, die durch ihren Erfolg ins Visier von Gewalt geraten. Im Januar 2024 gingen Tausende in Kenia auf die Strasse, um gegen die systemische Gewalt zu protestieren und ein Ende der Femizide zu fordern.
Aktivistinnen wie Zipporah Nyangara Mumbi weisen darauf hin, dass diese Gewalt oft über Generationen weitergegeben wird: Kinder, die Gewalt zu Hause erleben, übernehmen häufig die Verhaltensmuster. Auch nach Rebecca Cheptegeis Tod fanden in Kenia und Uganda erneut Proteste statt.
Ein letzter Abschied
Rebecca Cheptegei wurde am Samstag, dem 14. September, in ihrer Heimat Bukwo im Osten Ugandas unter militärischen Ehren beigesetzt. Cheptegei durchlief in ihrer Jugend das Sportprogramm des ugandischen Militärs und diente zuletzt im Rang eines Sergeants. Ihre Beisetzung war eine Zeremonie in drei Akten.
Zunächst versammelten sich ihre Familie und offizielle Vertreter im Rathaus. Bessie Modest Ajilong, die Vertreterin der ugandischen Präsidentschaft, würdigte Rebecca als Heldin. Ihr zu Ehren soll eine Strasse in Bukwo nach ihr benannt werden.
Anschliessend versammelten sich Hunderte Trauernde, darunter auch führende Athletinnen und Athleten, auf einem Feld, um Rebecca die letzte Ehre zu erweisen. Einige hatten ihre Teilnahme am Diamond-League-Finalevent in Brüssel abgesagt, um in Bukwo zu sein. Viele trugen schwarze T-Shirts, mit dem Aufdruck «Stoppt geschlechtsspezifische Gewalt». Es war ein Moment des kollektiven Innehaltens, als die Menge still den Reden lauschte, die Rebecca Cheptegeis Leben und ihre sportlichen Erfolge würdigten.
Die Beerdigung von Rebecca Cheptegei
«Sie war nicht krank, sie hatte keinen Unfall – sie wurde angegriffen», sagte die kenianische Langstreckenläuferin Mary Keitany während der Trauerfeier. «Wir fordern die Regierungen von Kenia und Uganda auf, sich um uns zu kümmern, sich um die Athleten zu kümmern, sich um unser Leben zu kümmern.» «Rebecca ist nicht die Erste, und sie wird nicht die Letzte sein, wenn wir nichts tun,» warnte Mary Keitany weiter. In ihren Worten eine dringende Warnung: «Wir brauchen Schutz, nicht nur für uns Athletinnen, sondern für alle Frauen.»
Sie hat uns alle unterstützt. Jetzt wissen wir nicht, wie wir ohne sie weiterleben sollen.
Rebeccas Vater, Joseph Cheptegei, sprach leise: «Rebecca war so demütig und freundlich. Sie hat uns alle unterstützt. Jetzt wissen wir nicht, wie wir ohne sie weiterleben sollen.» Die Last, die nun auf der Familie liegt, ist nicht nur emotional, sondern auch finanziell. Rebecca hatte nicht nur ihre eigenen Kinder versorgt, sondern auch ihre Eltern und Geschwister unterstützt.
Als die Sonne hinter den sanften Hügeln versank, wurde auch der mit der ugandischen Flagge bedeckte Sarg von Rebecca Cheptegei langsam in die Erde gesenkt – der letzte Akt auf dem Familiengrundstück. Sechs Soldaten feuerten Salutschüsse in den Abendhimmel, ein militärisches Ehrenzeichen für die Läuferin.
Rebeccas zwei Töchter, in weisse Kleider gehüllt und von Tränen überströmt, umarmten das Bild ihrer Mutter und warfen weisse Blumen auf den Sarg.