Wie fallen die Reaktionen auf Johnsons Sieg in Brüssel aus? Sie seien alle professionell diplomatisch, sagt EU-Korrespondent Sebastian Ramspeck. Sowohl der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wie auch seine Nachfolgerin, Ursula von der Leyen, haben Boris Johnson gratuliert. Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier hat betont, das Scheidungsabkommen werde nicht neu verhandelt. «Das war und ist der heilige Vers auf Seiten der EU», so Ramspeck.
Wie wird Johnson den Brexit vollziehen? «Es wird schon wieder in Szenarien gesprochen», so Grossbritannien-Korrespondentin Henriette Engbersen. «Wir werden im Oktober wilde Zeiten haben, wie schon im Frühling unter Theresa May.» Der neue britische Premier werde wohl Ende August nach Brüssel gehen. «Und was immer er zurückbekommt, wird er als seinen Deal verkaufen.» Engbersen vermutet allerdings nicht, dass sich dieser Deal von dem, den seine Vorgängerin ausgehandelt hat, unterscheidet.
Hat Johnson das Parlament hinter sich? Die SRF-Korrespondentin schätzt, dass der auszuhandelnde Deal nicht durchs Parlament kommt. Dann droht der No Deal. «Und dagegen wird sich wiederum das Parlament mit aller Macht stemmen», so Engbersen. Diesen Machtkampf könnte es für sich entscheiden. Und gelingt es Johnson nicht, das Parlament auszuhebeln, könnten Neuwahlen auf die Agenda kommen. Dass er das Unterhaus suspendiert, wäre ohnehin ein untypischer Schritt, den er von der Queen absegnen lassen müsste – und gegen den sich das Parlament auch wehren würde.
Was kann Brüssel überhaupt anbieten? Gelingt es dem neuen britischen Premier, den vertragslosen Brexit als glaubhafte Drohkulisse aufzubauen, bekämen es doch einige EU-Staaten mit der Angst zu tun, meint EU-Korrespondent Ramspeck. «Dann könnte die EU als Kompromiss einen befristeten Backstop anbieten. Aber in Brüssel hoffen alle darauf, dass das britische Parlament sowieso um jeden Preis ein Abkommen verhindern will.»
Auch das SRF-Publikum hat Fragen. So etwa Heinz Lindenmann:
Wie verhält sich die Opposition?
«Die Labour-Partei wird versuchen, Johnson durch ein Misstrauensvotum zu stürzen. Denn sie hat ein Ziel vor Augen: Neuwahlen und selber an die Macht kommen. Übrigens: In diesem chaotischen Zustand, auf den wir zusteuern, hätte auch ein zweites Referendum wieder bessere Chancen», antwortet Engbersen.
Oder Markus Dudler:
Ticken ‹BoJo› und Trump ähnlich?
Korrespondentin Engbersen sagt dazu: «Die Briten, die ich gefragt habe, finden: Nein. Im Gegensatz zu Trump ist der charismatische Johnson Teil der politischen Elite. Was ihn aber mit Trump eint: Er interessiert sich manchmal nicht so sehr für die Details. Das hat man gemerkt, als er Aussenminister war.»
Werden die Briten am 1. November noch in der EU sein? Aufgrund des komplizierten innenpolitischen Prozesses glaubt Ramspeck: Ja. Mindestens bis Ende 2019 werde Grossbritannien noch Mitglied der EU sein. Engbersen hingegen glaubt: Grossbritannien wird vor Ende 2019 kein EU-Mitglied mehr sein. Ende Oktober könnte wegen Neuwahlen knapp werden. Doch: «Die Tories und Johnson müssen den Brexit vollziehen. Es gibt viele Parteimitglieder, die sagen, wenn die Tories den Brexit bis Ende Oktober nicht vollziehen, ist die Partei erledigt. Johnson wird deshalb viel daran setzen, das Ziel zu erreichen.»
Boris Johnson: Bilderbuchkarriere mit Stolperern
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Bild 1 von 10. Querkopf mit stringenter Karriereplanung: Johnson besuchte die Elite-Universitäten, die so mancher britischer Premierminister in seiner Vita hat. In Oxford war er Mitglied des exklusiven «Bullingdon Club», der wegen seiner ausufernden Parties berüchtigt war. Dort lernte er auch den späteren Premierminister David Cameron kennen. Bildquelle: Reuters.
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Bild 2 von 10. Nach dem Studium wandte sich Johnson Ende der 1980er-Jahre dem Journalismus zu. Sein Markenzeichen: Spitze Feder und ein höchst unterhaltsamer Mix aus Fakt und Fiktion. Seine Beiträge als Europakorrespondent aus Brüssel hatten zuweilen satirische Züge – und kosteten ihm den Job. Die Lacher in der Heimat waren ihm trotzdem sicher. Bildquelle: Reuters.
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Bild 3 von 10. In den 90ern erlangte Johnson mit seinen TV-Auftritten eine grosse Fangemeinde in Grossbritannien. «Direkt bis zur Ruppigkeit, exzentrisch und witzig, dabei von brillantem Verstand», beschrieb etwa die «Welt» seinen Auftritte. Ein Muster seiner «Direktheit»: Die Bewohner Papua-Neuguineas bezeichnete er als «Kannibalen und Mörder». Bildquelle: Reuters.
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Bild 4 von 10. Parallel zu seiner journalistischen Tätigkeit lancierte Johnson seine politische Karriere. 2001 kandidierte er erfolgreich für die Tories in dem erzkonservativen Wahlkreis Henley-on-Thames. Weil er über eine aussereheliche Affäre gelogen hatte, verlor er 2004 das Amt als einer der Stellvertreter des damaligen Tory-Parteichefs. Bildquelle: Reuters.
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Bild 5 von 10. Zum Erstaunen vieler Beobachter kandidierte der «Politclown» 2007 für das Amt des Bürgermeisters von London. Mit Erfolg: Der Blondschopf setzte sich 2008 überraschend deutlich gegen Amtsinhaber Ken Livingstone (Labour) durch. Bildquelle: Reuters.
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Bild 6 von 10. Erfolgreicher Test der Betten der Athletenquartiere der Olympischen Spiele in London 2012 – die Johnson als Londoner Bürgermeister selbstredend nach Grossbritannien brachte. Kritiker schreiben ihm eine überschaubare Rolle bei seinem «Coup» zu. Bildquelle: Reuters.
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Bild 7 von 10. Nichtsdestotrotz: Viele Londoner liebten ihren schrulligen Bürgermeister. Seine Amtszeit widmete er dem Kampf gegen Verbrechen und Kriminalität – so führte er etwa ein Alkoholverbot im ÖV ein. Weitere Meilensteine seiner Amtszeit: Doppeldecker-Busse statt Gelenkbusse – und die «Boris Bikes», ein städtisches Leifahrradprojekt. Bildquelle: Reuters.
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Bild 8 von 10. 2014 schrieb Johnson mit «The Churchill Factor» einen Bestseller – sein achtes Buch widmete er seinem grossen Vorbild. Nun startete Johnson endgültig auch national durch: 2015 zog er zum zweiten Mal ins britische Unterhaus ein, 2016 ging er auf Konfrontationskurs zu Premier Cameron: Dieser hatte soeben das Brexit-Referendum angekündigt. Bildquelle: Reuters.
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Bild 9 von 10. Vehement setzte sich Johnson später für den EU-Austritt ein. Für Beobachter weniger aus Überzeugung als aus persönlichem Ehrgeiz und Konkurrenz gegenüber Cameron. Tatsächlich hatte Johnson zwei Kolumnen für den «Daily Telegraph» geschrieben. Eine für und eine gegen den Brexit. Der Austritt schien offenbar vielversprechender für die Karriere. Bildquelle: Reuters.
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Bild 10 von 10. Cameron trat nach dem Brexit-Referendum zurück. Unter Premierministerin Theresa May wurde Johnson 2017 als Aussenminister ins Kabinett berufen. Dort leistete er sich so manchen diplomatischen Aussetzer; 2018 erklärte er seinen Rücktritt. Johnson stellte sich nun offen gegen die angezählte Premierministerin – und schielte an die Downing Street 10. Bildquelle: Reuters.