Die radikale Palästinenserorganisation Hamas, welche den Gazastreifen regiert, ist sich Druck aus Israel gewohnt. Aber jetzt regt sich auch in der eigenen palästinensischen Bevölkerung Widerstand. Letzte Woche sind vor allem junge Leute auf die Strasse gegangen. Auf diese Demonstrationen hat die Hamas mit grosser Härte reagiert. Laut der Journalistin Gisela Dachs verliert die Hamas zunehmend an Rückhalt – selbst bei Partnerländern.
SRF News: Am Montag meldete Israel einen Raketenangriff der Hamas auf ein Dorf nahe Tel Aviv. In Israel wird in zwei Wochen gewählt. Sehen Sie einen Zusammenhang mit dem Zeitpunkt dieses Raketenangriffs?
Gisela Dachs: Ja, denn es ist klar, dass der israelischen Regierung in solchen Zeiten die Hände gebunden sind. Denn wer will jetzt schon einen grossen Waffengang anfangen? Mit einem Angriff kann die Hamas zugleich Stärke demonstrieren, ohne allzu viel zu riskieren – wenigstens im Augenblick.
Die Hamas hat mit Unmut aus der eigenen Bevölkerung zu kämpfen. Was genau werfen ihr die Bürgerinnen und Bürger im Gazastreifen vor?
Die Lebensumstände sind in Gaza weiterhin desolat. So hat sich in den letzten Monaten eine soziale Bewegung in den sozialen Netzwerken gebildet, unter dem Hashtag #WeWantToLive. Im Zentrum stehen Preisanstiege, aber vor allem auch das Thema Korruption unter der Hamas. Ein Video hat die Runde gemacht, in dem eine Frau sagt: «Die Hamas, die haben schöne Häuser und Autos, und wir haben nichts zu essen.» Daraufhin begann sich diese Bewegung zu formieren, die dann brutal zusammengeschlagen wurde.
Die Hamas regiert im Gazastreifen seit 2007. Dass sich die eigene Bevölkerung gegen sie stellt, ist für sie neu. Was sind die Gründe?
Neben der Verschlechterung der Lebensumstände und der Hoffnungslosigkeit gibt es auch eine ganze Reihe von Verbündeten, die die Hamas immer mehr im Stich lassen und sie isolieren. An erster Stelle die Palästinenserbehörde im Westjordanland: Sie hat die Daumenschrauben besonders stark angezogen. Sie hat den Strom und Beamte nicht mehr bezahlt.
Die Hamas hat lange von der Idee gelebt, bescheiden zu sein – im Gegensatz zu den reichen Funktionären der Palästinenserbehörde.
Auch der Iran hat im Augenblick weniger Mittel, um die Hamas zu unterstützen. Lediglich Katar konnte – mit israelischer Genehmigung – Koffer voller Geld in den Gazastreifen bringen, um wenigstens für das Nötigste zu sorgen.
Bisher konnte die Hamas die Bevölkerung mit dem Feindbild Israel hinter sich scharen. Funktioniert das nicht mehr?
Die Hamas hat lange von der Idee gelebt, bescheiden zu sein – im Gegensatz zu den reichen Funktionären der Palästinenserbehörde, die sich Gelder in die Tasche stecken. Jetzt steht sie selber am Pranger. Es wird sich zeigen, ob der Druck der Strasse bis in die Hamas hinein wirkt und dann tatsächlich zu einem Politikwechsel führt. Das mag aber auch einfach nur Wunschdenken sein.
Was wollen die Demonstrierenden konkret erreichen?
Im Augenblick ist einfach die Angst nicht mehr da, laut zu sagen: «Schlechter kann es uns nicht mehr gehen.» Vielleicht hilft derzeit auch ein Blick nach Algerien. Die Menschen sind auch im Gazastreifen vernetzt und sehen, was woanders passiert. In Algerien gehen die Menschen auf die Strasse, auch im Sudan tun sie das. Selbst wenn man versucht, die Menschen zu isolieren: Videos dringen nach draussen. Und vielleicht verändert es doch irgendetwas, wenn man aufschreit und sagt, dass man so nicht weiterleben will.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.