Eine abgelegene Bucht auf der Insel Hongkong. Unten glitzert das Meer in der Morgensonne. Oben im Schatten der dicht begrünten Hügel verbirgt sich das grösste Gefängnis Hongkongs.
In der Bucht treffen Gegenwart und Zukunft des 23-jährigen Krankenpflegers John aufeinander. Denn beim Treffen im April konnte John noch frei reden. Heute sitzt er im Gefängnis. Sein Verbrechen: Teilnahme an einem Aufstand und Besitz einer Waffe – eines Laserpointers.
Schwarze Jacke, buntes T-Shirt
John, der aufgrund seiner Anklage lieber nicht mit richtigem Namen genannt werden möchte, zieht sich eine schwarze Trainerjacke über – wie damals.
2019 hätten sich die Demonstranten darauf geeinigt, sich schwarz zu kleiden. So konnte man seine Identität gut verbergen. Unter der Jacke haben die Protestierenden dann jeweils ein buntes T-Shirt getragen. «Wenn die Polizei versucht hat, uns zu verhaften, rannten wir davon und zogen die schwarze Jacke aus. So war es schwieriger, uns als Demonstranten zu identifizieren», erzählt John.
Trotzdem wurde John im Sommer 2019 festgenommen, als er mit anderen Protestierenden zum Regierungssitz vordringen wollte. «Da attackierte uns die Polizei plötzlich aus einer unerwarteten Richtung.» Viele wurden verhaftet. Er sei einer der Unglücklichen gewesen.
Über 10'000 Verhaftungen und ein Gesetz
Dass John seine Strafe erst rund vier Jahre nach der Verhaftung antreten muss, liegt daran, dass über 10'000 Leute während der Proteste verhaftet wurden. Die vielen Prozesse überlasten die Hongkonger Justiz. So warten auch jetzt noch Tausende von Angeklagten auf ihr Urteil.
Chinas Regierung reagierte auf die Proteste, indem sie ein nationales Sicherheitsgesetz für Hongkong erliess. Ein vage formuliertes Gesetz, das zu einer politisch motivierten Strafverfolgung missbraucht werden kann, wie Menschenrechtsorganisationen kritisieren.
So haben die Proteste von 2019 nicht etwa zu mehr Demokratie und Mitbestimmung in Hongkong geführt – sondern zu weniger Freiheiten und zu einem Klima der Angst, sind heute viele aus der Protestbewegung überzeugt.
Auch John am Strand sieht dies so. Jedoch sagt er: «Ich bedaure nicht, dass ich zur Beschleunigung dieser Entwicklung beitragen habe. Wir haben der Welt die hässliche Seite der chinesischen Regierung gezeigt, die alles tut, um ihre Macht zu schützen.»
Keine Gnade mit Protestierenden
Genugtuung, dass in Hongkong wieder Ruhe und Ordnung eingekehrt ist, zeigt hingegen Tommy Cheung. Der 73-Jährige ist der dienstälteste und älteste Parlamentarier in Hongkong. Als pekingnaher Abgeordneter hat er nicht viel übrig für die Protestierenden von 2019.
Einige von ihnen hatten das Parlament gestürmt und verwüstet. Nur weil diese ein Banner «Demokratische Bewegung» aufhielten, hiesse dies nicht, dass die Leute nicht vor Gericht gestellt werden sollen.
«Niemand steht über dem Gesetz», sagt der Parlamentarier. So würden die Hongkonger Gerichte den Aufständischen ihre gerechten Strafen geben. Dass Peking mit dem neuen Sicherheitsgesetz die Opposition mundtot gemacht hat, davon will Tommy Cheung nichts wissen.
Zivilgesellschaft verstummt
Sie sei vorsichtig geworden mit ihren Äusserungen. Das sagt die 28-jährige Juristin und Bloggerin Emilia. Auch sie war bei den Protesten dabei. Heute sei sie nur noch online aktiv, schreibt über soziale Anliegen, vorwiegend Genderthemen.
Dabei werde sie aber nicht politisch. Das sei inzwischen zu riskant. Auf die Selbstzensur angesprochen, gesteht Emilia ein: «Sie haben damit ihr Ziel wohl erreicht.» Sie meint damit die von Peking eingesetzte Regierung in Hongkong, welche die Demokratiebewegung zum Schweigen bringen wolle.
Seit der Einführung des Sicherheitsgesetzes sind in Hongkong zahlreiche Nichtregierungsorganisationen und Vereine verschwunden oder verstummt. Zehntausende Hongkongerinnen und Hongkonger sind ausgewandert.
Das führe zu einer kollektiven Depression in der einst pulsierenden Metropole, diagnostiziert Tobias Brandner. Der Schweizer ist seit 25 Jahren Gefängnisseelsorger in Hongkong.
Gefährliche politische Gefangene
Als solcher hat er auch die inhaftierten Aufständischen immer wieder besucht. Bis die Behörden ihm einen Aufpasser aufgehalst haben. Dieser musste all seine Gespräche im Gefängnis mithören, ihn gar auf die Toilette begleiten.
Für Brandner, der sich über Jahrzehnte frei und unbeaufsichtigt mit allen Gefangenen austauschen konnte, ein traumatisierendes Erlebnis.
Die politischen Gefangenen sitzen meist in Einzelhaft. Ein weiterer Hinweis, dass die Behörden diese Gefangenen nicht einfach als Gesetzesbrecher ansehen, sondern als eine Bedrohung für das System, meint Brandner.
Preis der Freiheit
Krankenpfleger John ist nun einer dieser Gefangenen. Im Oktober wird das Gericht entscheiden, wie lange er hinter Gitter muss. Es dürften zwei bis sechs Jahre werden.
In was für ein Hongkong John dann entlassen wird, ist die grosse Frage. Wird es wieder mehr Freiheiten geben für einen politischen und zivilgesellschaftlichen Diskurs? Oder werden Oppositionelle und Dissidenten noch stärker verfolgt?
Derzeit deutet viel auf letzteres hin. Aber schwarz vermummt auf die Strasse gehen und lautstark mehr Demokratie und Mitsprache einfordern, das getraut sich in Hongkong kaum mehr jemand.
Der Preis dafür ist zu hoch. Das zeigen die tausenden Demonstrantinnen und Demonstranten, die ihre Forderung für mehr Freiheit für Hongkong heute mit ihrer eigenen Freiheit bezahlen.