SRF News: Am Montagabend ist es in Istanbul zu mehreren Demonstrationen gegen Präsident Erdogan und sein Referendum gekommen. Wie war die Stimmung unter den Demonstranten?
Luise Sammann: Es war eine interessante Mischung. Zum einen spürte man natürlich den Ärger der Leute, die sich betrogen fühlen. Doch auffälliger war die positive Stimmung, die herrschte. Es wurde getanzt und gesungen. Statt Frustration war die Grundstimmung eher: «Hallo, wir sind da. Wir machen weiter!»
Die Polizei hat sich ebenfalls zurückgehalten. Heisst das, beide Seiten setzen ganz bewusst auf friedliche Proteste?
Die Polizei hat sich zurückgehalten, weil die Anspannung natürlich gross ist. Sicher bestand die Sorge, dass die Lage eskalieren könnte. Man ist sich bewusst, welches Explosionspotential ein solch knappes Ergebnis mit sich bringt.
Viele Menschen sind erleichtert. Sie haben die Nase voll, ständig gegeneinander aufgehetzt zu werden. Sie wünschen sich einfach Alltag.
Seitens der Oppsition haben wir diese positive Grundstimmung bereits vor dem Referendum erlebt. Die Gegner Erdogans wollten bewusst dem finsteren Ein-Mann-System von Erdogan eine lächelnde, vielfältige, bunte und pluralistische Türkei entgegensetzten. Das versucht sie nun weiter fortzuführen und nicht in den Hass abzurutschen, den man der Gegenseite vorwirft. Und trotzdem: Bei vielen Menschen macht sich schon auch Frust breit.
Bisher hat man nicht viel von Protesten gehört, war denn die Stimmung grundsätzlich in der Türkei bisher zurückhaltend?
Ich glaube, viele Türken teilen erst mal eine Erleichterung darüber, dass dieser unsägliche Wahlkampf vorbei ist. Die Menschen befinden sich seit Jahren in einem ständigen Wahlkampfmodus, permanent herrscht diese Polarisierung und Aufpeitsch-Stimmung. Viele Türken haben die Nase voll und wünschen sich einfach Alltag. Bei manchen herrscht aber auch eine Art Schockstarre vor: Man will kein unfairer Verlierer sein und deswegen nun auf die Strasse gehen. Doch sind da auch die Vorwürfe der Unstimmigkeiten bei der Wahl.
Haben die Demonstranten nicht auch Angst vor Repressionen und wollen darum jetzt gerade nichts riskieren?
Das ist natürlich ein Faktor, den wir seit den Gezi-Protesten ständig spüren hier. Darum gibt es eigentlich auch wenig Demonstrationen. Viele haben erkannt: Man muss wirklich todesmutig sein, wenn man noch an Demonstrationen teilnehmen will. Dass hier am Montag trotzdem Tausende auf die Strasse gingen, zeigt, wie entschlossen sie sind. Einer der wichtigsten Slogans war: «Die Nein-Kampagne ist nicht zu Ende. Sie fängt jetzt erst richtig an!»
Ein kluger Präsident müsste jetzt auf Deeskalation setzen und die tief gespaltene türkische Gesellschaft wieder vereinen.
Wir sich diese Stimmung halten, oder das Fass trotzdem irgendwann explodieren?
Das hängt sehr davon ab, wie sich Erdogan nun verhalten wird. Ein kluger Präsident müsste jetzt auf Deeskalation setzen und die tief gespaltene türkische Gesellschaft wieder vereinen. Wenn die Verfassung, also der Gesellschaftsvertrag, von der Hälfte der Menschen im Land nicht anerkannt wird, kann man nicht mehr von einem Gesellschaftsvertrag sprechen.
Wenn niemand die vielen Stimmen der Unzufriedenen hört, wird sich diese Unzufriedenheit langfristig irgendwo entladen.
Viele Beobachter sagen: Ein solches Land ist eigentlich nicht regierbar, Spannungen sind programmiert. Es braucht nun Politiker, die in der Lage sind, die beiden Seiten wieder zusammenzuführen. Leider ist das nichts, das man Erdogan zutraut. Und das macht Sorge: Denn wenn niemand die vielen Stimmen der Unzufriedenen hört, wird sich die Unzufriedenheit langfristig irgendwo entladen – sei es durch Proteste oder aber auch durch Abwanderung der Akademiker. Das wird dem Land schaden. Im Moment ist leider für das Land kein Licht am Horizont zu sehen.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.