Bei Chaos und Schüssen rund um einen Hilfskonvoi haben am Donnerstag wohl dutzende Menschen im Norden des Gazastreifens ihr Leben verloren. Verlässliche Informationen gibt es kaum.
Susanne Brunner, Leiterin der Radio-Auslandsredaktion, und Sebastian Ramspeck, internationaler TV-Korrespondent, werfen einen Blick auf Gaza, Israel und die Welt.
Der Blick auf Gaza
«Der Vorfall hat sich abgezeichnet», meint Brunner. «Wir sprechen von einer Bevölkerung von über zwei Millionen Menschen, die von einem Tag auf den anderen keinen Strom, keinen Treibstoff, keine Lebensmittel und kein Wasser mehr erhalten hat. Sie hat bald fünf Monate Dauerbombardierung und grauenhafte hygienische Zustände durchgemacht.» Es herrsche Verzweiflung.
«Palästinenser berichten, dass die israelischen Soldaten ohne Vorwarnung geschossen hätten. Einige Menschen versuchten offenbar, sich zu verstecken. Als sie sich wieder zum Hilfskonvoi getraut haben, hätten die Soldaten wieder geschossen.» Brunner kann lediglich zitieren, was sie selbst auf den sozialen Medien gelesen oder über Kontakte im Gazastreifen erfahren hat. «Die einen berichten von Kopfschüssen. Die anderen von Schüssen in die Beine.»
«Die Hamas redet von einem weiteren Massaker an der palästinensischen Zivilbevölkerung. Ihren Anteil an dieser entsetzlichen Situation im Gazastreifen thematisiert sie aber nicht», so Brunner.
Für die Menschen in Gaza sei jeder Tag voller neuer Tiefpunkte. Doch dieser tragische Vorfall, bei dem hungernde Menschen, bevor sie überhaupt die Hilfsgüter erreichen, erschossen, zu Tode getrampelt oder überfahren werden – «ich denke, dieses Bild steht für das unfassbare Elend im Gazastreifen».
Der Blick auf Israel
Einen offiziellen Kommentar der israelischen Regierung gab es noch nicht. «Israelische Medien berichten aber mit Berufung auf Armeekreise, dass die Soldaten Warnschüsse abgegeben hätten», berichtet Brunner.
Laut Israels Armeesprecher Daniel Hagari sind keine Menschen gezielt angegriffen worden. Bei der Ankunft der Hilfsgüter seien aber zahlreiche Personen auf die Lastwagen gestürmt und es sei zu einem Gedränge gekommen. «Es heisst, die meisten Menschen wurden nicht erschossen, sondern zu Tode getrampelt», sagt Brunner.
Die Truppen vor Ort hätten sich nach dem Vorfall zurückgezogen. Die Angaben der israelischen Armee lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Der Blick auf die Welt
«Nach dem Blutbad sorgt der Gaza-Krieg für eine weitere Empörungswelle», sagt Sebastian Ramspeck. Die Folgen dürften vermutlich aber überschaubar bleiben.
«Viele Regierungen fordern eine Aufklärung des Vorfalls. Der UNO-Sicherheitsrat kommt zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Zusätzliche Staaten dürften den Abwurf von Hilfsgütern aus der Luft in Erwägung ziehen», fasst Ramspeck zusammen. «Zudem gefährdet das Blutbad die Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas über eine Waffenruhe und einen Austausch von Geiseln und Gefangenen.»
Von Regierungen in der ganzen Welt werde es Kritik nicht nur am Terror der Hamas, sondern auch den Vorwurf an Israel geben, im Gaza-Krieg das humanitäre Völkerrecht auf grobe Weise zu verletzen. «Doch solange Israel auf die politische und militärische Unterstützung der USA zählen kann, wird das Land keinen Kurswechsel vollziehen», so Ramspeck. «Der Gaza-Krieg wird weitergehen, von einer Empörungswelle zur nächsten.»