Boris Johnson ist weg. Der Startschuss um das Rennen für die Nachfolge ist gefallen. Bis Anfang September soll klar sein, wie der neue britische Premierminister heisst. Fast ein Dutzend Männer und Frauen haben sich um die Nachfolge beworben. Seit Dienstag läuft der Concours.
In einem ersten Schritt wurde das Feld bereits auf acht Personen reduziert. Bis zu den Sommerferien soll die Longlist auf zwei Favoriten gekürzt werden. Diese gehen anschliessend auf Wahltournee. Soweit alles gut – doch der konservativen Regierungspartei könnte durchaus ein schwieriger Sommer bevorstehen.
Es dürfte laut werden
Denn mit dem Rücktritt von Boris Johnson und seiner Degradierung zum temporären Hauswart von Downing Street ist das politische Drama nicht zu Ende. Lediglich der Vorhang zum nächsten Akt hat sich gelüftet. Die Liste derer, die künftig die Hauptrolle spielen möchten, ist dabei erfreulich divers. Die ehemalige britische Kolonialmacht könnte allenfalls bald von einer schwarzen Frau oder einem Enkel indischer Einwanderer regiert werden.
Doch für solche Finessen interessiert sich im Moment niemand. In zwei Wochen entschwindet das Parlament in die Ferien. Das heisst, den Kandidatinnen und Kandidaten bleibt nur wenig Zeit, sich in Szene zu setzen. In den nächsten Tagen wird es deshalb erst einmal laut werden: Steuern rauf oder runter? Brexit Ja oder Nein? Klimawandel Humbug, oder nicht? Alles in allem mehr Gesinnungstest als Programm.
Die sauren Früchte des Scheidungsdramas
Und doch wird deutlich, welchen Trümmerhaufen Johnson hinterlässt. «Let’s get Brexit done!» war der Slogan, der ihn an die Macht brachte. Die Früchte des Scheidungsdramas schmecken jedoch bis heute eher sauer. Wie die Kontrolle über Geld, Grenzen und Gesetze endlich umgesetzt werden soll, darüber sind sich die Bewerber alles andere als einig. Die Gefahr, dass es zur Schlammschlacht kommt und sich die verschiedenen Parteiflügel in den kommenden Wochen auf offener Bühne zerfleischen, ist deshalb durchaus intakt.
Unterschiedlich sind dabei auch die Charaktere der Protagonisten. Kronfavorit Rishi Sunak verkörpert das pure Gegenteil von Johnson. Er ist ein seriöser Schaffer, doch sein Auftritt wirkt immer leicht ölig und roboterhaft. Populistischem Aktionismus nicht abgeneigt ist dagegen Aussenministerin Liz Truss. Eher auf Diskretion setzt der aktuelle Finanzminister Nadhim Zahawi. Er kann sich in diesen Tagen partout nicht erinnern, wie gross sein Vermögen ist.
Das kommende Sommerloch bietet noch viel Raum für weitere toxische Enthüllungen und Peinlichkeiten.
Grassierende Armut in Grossbritannien
Doch die meisten Britinnen und Briten haben dazu buchstäblich nicht viel zu sagen. Die neue Premierministerin beziehungsweise der neue Premierminister wird von der konservativen Parteibasis gewählt. Das heisst, von etwa 0.35 Prozent der britischen Bevölkerung. Doch es sind nicht die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie, unter denen die Leute leiden. Eher unter «Long-Boris», «Long-Brexit» und «Long-Tories».
Gegen zehn Millionen Menschen leben in Grossbritannien an der Armutsgrenze. Wer nur noch einmal pro Tag isst, seine Gasrechnung nicht mehr bezahlen kann, und sich die Zähne selber flicken muss, ist weniger daran interessiert, wie der nächste Bewohner oder die Bewohnerin der Downing Street heisst, sondern, wie er oder sie selbst den nächsten Winter überlebt.