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Nahost-Konflikt in Europa «Die arabischen Jugendlichen nehmen einen Doppelstandard wahr»

Der Krieg im Nahen Osten beeinflusst auch das Zusammenleben hier in Europa. Gleichzeitig nehmen antisemitische Vorfälle und Rassismus gegen muslimische und arabische Menschen zu. Im aufgeheizten Klima wächst der Druck, Partei zu ergreifen, es gibt Boykottaufrufe. Der deutsch-palästinensische Politologe Ahmad Dakhnous engagiert sich für ein differenziertes Bild – bei Jugendlichen und in Schulen.

Ahmad Dakhnous

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Der deutsch-palästinensische Politologe Ahmad Dakhnous macht politische Bildungsarbeit. Unter anderem besucht er zusammen mit einem jüdisch-israelischen Kollegen Schulklassen, um mit ihnen über den Nahostkonflikt zu sprechen. Darunter sind auch viele arabischstämmige Jugendliche.

SRF News: Wie erleben Sie die Jugendlichen in Deutschland bei Ihren Begegnungen?

Ahmed Dakhnous: Sehr unterschiedlich. Viele sind schockiert über die Bilder aus Gaza – und auch darüber, wieso der Krieg nicht gestoppt wird. Viele muslimische Jugendliche ziehen sich zurück, sie fühlen sich entfremdet – und öffnen sich erst, wenn sie merken, dass das hier ein Raum ist, wo sie frei und offen sprechen können. Es gibt auch einen Vertrauensverlust gegenüber den Medien oder der Schule.

Fühlen sich arabischstämmige Jugendliche vom öffentlichen Diskurs über den Nahostkonflikt ausgeschlossen?

Sie nehmen eine Ungleichheit von Menschenleben wahr – gestützt von höchster Stelle: Aussenministerin Annalena Baerbock sagte im Oktober im Deutschen Bundestag, zivile Strukturen in Gaza verlören ihren Schutz für die Zivilbevölkerung, wenn sich Terroristen dort versteckten.

Die arabischen Jugendlichen nehmen einen Doppelstandard wahr.

Man stelle sich vor, sie hätte das von anderen Bevölkerungsgruppen gesagt – also etwa, dass es in Ordnung sei, hundert Schweizer zu töten, wenn so ein paar Terroristen ausgeschaltet werden können. Die arabischen Jugendlichen nehmen also einen Doppelstandard wahr.

Viel Medienpräsenz nimmt auch der Ukraine-Krieg ein. Wird diese Debatte in den Medien anders geführt als der Nahostkonflikt?

Ja, absolut. Deutschland hat zu Recht keine Sekunde gezögert beim Haftbefehl für Putin. Bei Netanjahu und Galant aber gab es bloss eine peinliche Bundespressekonferenz. Es scheint, dass man nach alternativen Legitimationskonzepten sucht. Die öffentliche Solidarität mit den Palästinensern wird skandalisiert und kriminalisiert.

Die Jugendlichen fragen sich, warum man zwar über die Ukraine spricht, nicht aber über Nahost.

All das schafft ein Klima der Einschüchterung und der Angst in der Zivilgesellschaft – und auch in den Schulen. Viele Lehrkräfte wollen nicht über den Nahostkonflikt sprechen – das bemerken die Schüler natürlich und fragen sich, warum man zwar über die Ukraine spricht, nicht aber über Nahost.

Können Sie verstehen, dass die historische Schuld der Judenverfolgung in Deutschland die innenpolitische Reaktion auf den Nahostkonflikt beeinflusst?

Auf jeden Fall – und es ist absolut zentral, dass man politisch dem «nie-wieder»-Appell folgt. Doch die Frage ist, was genau das bedeutet: Geht es ausschliesslich um Antisemitismus, oder steht der Mensch im Zentrum? Denn daraus müsste ein Commitment für die Menschenrechte und das Völkerrecht folgen. Aus meiner Sicht versagt die deutsche Israelpolitik derzeit in beiden Bereichen.

Wie erleben Sie die Antisemitismus-Debatte in Deutschland?

Ich beobachte eine politische Instrumentalisierung des Antisemitismus. So wird einerseits Kritik an Israels Regierung verhindert. Und andererseits spielt er eine Rolle bei der Migrationspolitik, indem er auf muslimische Jugendliche verlagert wird. Sie werden unter Antisemitismus-Generalverdacht gestellt – von der höchsten politischen Ebene. Das aber ist gefährlich, weil hier verschiedene Minderheiten gegeneinander ausgespielt werden.

Das Gespräch führte Matthias Kündig.

Echo der Zeit, 9.1.2025, 18:00 Uhr ; 

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