Der Angriff der Hamas auf Israel hat tiefe Wunden hinterlassen und die Fronten im Nahost-Konflikt verhärtet. US-Präsident Joe Biden hat diese Tage wieder von einer Zweistaatenlösung gesprochen. Welche Chancen dieser und andere Lösungsvorschläge haben, schätzt Politologe Jan Busse, der zum Nahen Osten forscht, ein.
SRF News: Ist die Zweistaatenlösung nach dem Hamas-Angriff noch realistisch?
Jan Busse: Die Perspektiven dafür sind momentan denkbar schlecht. Aber das waren sie auch schon vor dem Terrorangriff der Hamas. Im Hinblick auf den Nahost-Friedensprozess hat es mindestens in den letzten zehn Jahren keine greifbaren Fortschritte gegeben. Umso erstaunlicher ist es, dass politische Führer des Westens zwanghaft daran festhalten.
Warum tun sie das?
Das Paradigma der Zweistaatenregelung ist seit langer Zeit etabliert, spätestens seit dem Oslo-Friedensprozess 1993. Sich mit den Alternativen auseinanderzusetzen, könnte unbequem sein: Was, wenn es keine Zweistaatenregelung gibt? Weiter gibt es die Einstaatenrealität unter israelischer Kontrolle, in der palästinensischen Bevölkerung nicht die gleichen Rechte haben. Die Besetzung dominiert den Alltag der Palästinenserinnen und Palästinenser und es wird offen über eine Annexion von Teilen des Westjordanlands gesprochen.
Wenn eine friedliche Lösung befürwortet wird, dann steht nach wie vor die Zweistaatenregelung im Vordergrund.
Gibt es weitere Alternativen, die diskutiert werden?
Ja. Nur haben diese bisher nicht so grosse Popularität, wie man sich das vielleicht wünschen würde. Eine weitere Option ist ein demokratischer, binationaler Staat: ein gemischt jüdisch-palästinensischer Staat, der demokratisch und säkular wäre, sich nicht durch eine religiöse Identität definieren und Minderheiten schützen würde. Allerdings steht diese Idee im Widerspruch zur wirkmächtigen Idee des Nationalismus, den die Palästinenser anstreben und auch sehr wichtig für den jüdischen Staat ist.
Und was noch?
Daneben existieren Konföderationsmodelle. Sie beruhen darauf, dass es zwei unabhängige Staaten gibt, die offene Grenzen zueinander hätten. Politische Rechte würden die jeweiligen Gruppen nur in ihrem eigenen Staat geniessen: also Palästinenser in Palästina, Juden in Israel. Diese beiden Staaten könnten eine gemeinsame politische und ökonomische Union miteinander eingehen und gemeinsame Institutionen etablieren. Vorteil: Man bräuchte keine Teilung und man könnte beiden Seiten einen ungehinderten Zugang zu heiligen Stätten gewähren. Zudem müssten so die Siedlungen nicht evakuiert werden. Aber die Zustimmung solcher Modelle liegt in beiden Bevölkerungen aktuell bei rund 20 Prozent.
Bei Einstaatenmodellen hat die Zustimmung auf beiden Seiten zugenommen.
Gibt es relevante politische Akteure, die diese Lösung unterstützen würden?
In sehr geringem Masse. Der ehemalige linke Sprecher des Knesset, Avraham Burg, wäre ein Befürworter. Aber in den politischen Führungen ist es so, dass wenn eine friedliche Lösung befürwortet wird – das ist ja auf beiden Seiten nicht überall durch die Bank der Fall –, dann steht nach wie vor die Zweitstaatenregelung im Vordergrund.
Wie sieht die Zustimmung einer Zweistaatenlösung in der Bevölkerung aus?
Diese war in den letzten 20 Jahren nahezu identisch. Wir hatten lange Zeit eine kleine Mehrheit von knapp über 50 Prozent bei den Israelis und auch bei den Palästinensern. Aktuell ist die Zustimmung noch knapp bei über 30 Prozent. Bei Einstaatenmodellen hat die Zustimmung auf beiden Seiten zugenommen. Das ist besorgniserregend, weil die Idee von gleichen Rechten und Demokratie infrage gestellt wird.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.