In den letzten Tagen gab es teils massive Angriffe auf den Libanon. Die israelische Armee meldete am Freitag, dass sie innert 24 Stunden mehr als 120 Ziele im Nachbarland angegriffen habe. Im Süden der Hauptstadt Beirut hat dies erneut schwere Schäden hinterlassen. Ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht. Der in Beirut lebende Journalist Christoph Ehrhardt über die Auswirkungen der Gefahrenlage auf die Bevölkerung.
SRF News: Was macht die ständige Bedrohungslage mit den Menschen?
Christoph Ehrhardt: Die Leute haben die bemerkenswerte Fähigkeit, sich an alles zu gewöhnen. Es gibt einen Alltag, aber die Stimmung ist gedämpft. Alle wissen, dass die Lage im Land nicht besser wird, je länger dieser Krieg dauert, sondern immer schlechter. Man sieht die fortschreitende Zerstörung. Das grösste Problem ist die Vertreibung der mehrheitlich schiitischen Bevölkerung aus dem Süden. Das ist eine riesige Bürde für ein Land, das schon vorher unter einer ruinösen Wirtschaftskrise gelitten hat.
Im Libanon leben verschiedene Bevölkerungsgruppen nahe beieinander: Schiiten, Sunniten und Christen. Was bedeutet die Situation für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?
Auf der einen Seite gibt es Solidarität mit den Vertriebenen durch den Krieg. Es gibt aber auch viel Misstrauen, weil die Israelis immer wieder Ziele angreifen, an denen sich Hisbollah-Kommandeure aufhalten. Die Bevölkerung weiss also: Wo die Hisbollah ist, ist es gefährlich. Das sind auch alte Konflikte, die zum Teil in die Zeit des Bürgerkriegs zurückgehen und mit diesem Krieg wieder aufbrechen.
Man bemerkt einen sich andeutenden Kontrollverlust. Das ist für die Hisbollah gefährlich, sie muss ihre eigenen Leute bei Laune halten.
Es war immer so, dass man relativ trennscharf sagen konnte, wer wo lebt. Es gab quasi «unsichtbare Grenzen», man ging zum Beispiel nicht in dieses eine Viertel, wo die Anhänger einer schiitischen Bewegung lebten, von der sich die Christen im Nachbarviertel gefürchtet haben. Dadurch, dass sich jetzt die Bevölkerung aus dem Süden weiter im Land verteilt, sind die Grenzen nicht mehr so trennscharf. Das beunruhigt viele.
Was heisst das für die schiitische Bevölkerung, die in erster Linie vertrieben wurde?
Irgendwann wird den Leuten die Kraft ausgehen. Die Hisbollah verwendet auch jetzt viel Energie darauf, für ihre eigenen Leute zu sorgen. Es wird versucht, dieses parallele Sozialsystem, das die Hisbollah im Libanon errichtet hatte, am Laufen zu halten. Doch immer mehr schiitische Familien verlassen das Land und gehen in den Irak oder nach Syrien, weil sie sich hier nicht mehr sicher fühlen. Man bemerkt einen sich andeutenden Kontrollverlust. Das ist für die Hisbollah auch gefährlich, sie muss ihre eigenen Leute bei Laune halten.
Somit kommt ein fragiles gesellschaftliches Geflecht im Libanon ins Wanken.
Ganz genau. Das wird einem wahnsinnigen Stresstest ausgesetzt. Diese ganzen alten Wunden und das alte Misstrauen werden potenziert durch die militärische Bedrohung und durch die wirtschaftlichen Folgen dieses Krieges.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.