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Krieg in Nahost Kritik an Hamas: «Es ist gefährlich, aber es ist meine Aufgabe»

Die humanitäre Lage in manchen Teilen des Gazastreifens bleibt katastrophal – insbesondere im Norden. Dort hatte Israel Anfang Oktober eine neue Offensive gestartet und über mehrere Wochen keine Hilfslieferungen zugelassen. Wie beurteilt die palästinensische Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Naser die aktuelle Situation? Und wie bringt man Menschen an einen Tisch, die sich gegenseitig töten wollen?

Sumaya Farhat-Naser

Friedensaktivistin

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Sumaya Farhat-Naser gilt als Brückenbauerin zwischen Israelis und Palästinensern. Die 76-jährige christliche Palästinenserin lebt im Westjordanland. Sie widmet sich seit Jahrzehnten der Friedensarbeit und dem gegenseitigen Verständnis. Sie hat in Deutschland Biologie, Geografie und Erziehungswissenschaften studiert. Farhat-Naser hat mehrere Bücher über die Hintergründe des Nahostkonflikts geschrieben und ist regelmässig auf Vortragsreisen im deutschsprachigen Raum, zurzeit in Bern.

SRF News: Die israelische Armee greift weiter Ziele im Norden des Gazastreifens an. Manche sprechen inzwischen von einer ethnischen Säuberung. Wie beurteilen Sie die Situation?

Sumaya Farhat-Naser: Es ist eine Bedrohung für unsere Existenz, für das Dasein der Palästinenser in Gaza und im Westjordanland. Und es ist eindeutig: Es geht darum, uns zu vertreiben. Es ist unvorstellbar, wie brutal dieser Krieg ist. Und es wird noch schlimmer. Doch die Welt schweigt.

Person in dunklem Jackett vor dunkelrotem Hintergrund.
Legende: Derzeit ist Sumaya Farhat-Naser auf Vortragsreise in der Schweiz und kämpft für Dialog und Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern – trotz Hass, Tod und Vertreibung. imago images/ecomedia/robert fishman

Welche Möglichkeiten haben die Palästinenser?

Unsere Regierung, die palästinensische Autonomiebehörde, ist völlig gelähmt und bezieht keinerlei Stellung. Sie hat überhaupt keine Funktion mehr, weil Israel sie entkräftet hat.

Gibt es auf Ihrer Seite auch Fehlentscheidungen der Palästinenser, die der Sache geschadet haben?

Natürlich. Man muss die eigene Verantwortung benennen. Die Kluft zwischen Hamas und Fatah ist so tief geworden, dass sie sich nur noch streiten.

Die Wut ist gross – auf alles, was geschieht, aber auch auf die Hamas.

Seit 17 Jahren teilen Hamas und Fatah die Macht unter sich auf. Die Hamas hat im Gazastreifen mit Milliarden aus Katar eine militarisierte Unterwelt aufgebaut, während oberirdisch eine verarmte und leidende Bevölkerung lebt. Wie gross ist Ihre Wut auf die Hamas?

Die Wut ist gross – auf alles, was geschieht, aber auch auf die Hamas. Man hätte akzeptieren müssen, dass die Hamas 2006 die Wahlen gewonnen hat. Dann hätte man sie gezwungen, sich an die Regeln der Demokratie zu halten, anstatt sie in den Widerstand zu treiben.

Ist die Hamas für Sie eine Terrororganisation?

Hamas versteht sich als Widerstandsbewegung. Es gibt soziale Projekte, die sie umsetzt. Aber ihre Aktionen und ihr Programm sind terroristisch. Das ist ein Verbrechen, das ich vollständig ablehne, verurteile und nicht unterstütze.

Es ist meine Verantwortung, die Dinge beim Namen zu nennen.

Ist es nicht gefährlich, als Palästinenserin so klar Stellung gegen die Hamas zu beziehen?

Es ist gefährlich, aber ich habe die Aufgabe, es zu sagen, weil es für andere noch gefährlicher ist. Ich kann es tun, weil ich eine ältere Frau bin – 76 Jahre alt. Es ist meine Verantwortung, die Dinge beim Namen zu nennen. Ich habe weniger zu befürchten als andere, vor allem Männer. Aber ich muss vorsichtig sein und genau wissen, was möglich ist und was nicht.

UNRWA-Verbot in Israel und palästinensischen Gebieten

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Das israelische Parlament hat kürzlich dem UNO-Hilfswerk für Palästina (UNRWA) die Arbeit in Israel und den palästinensischen Gebieten untersagt . Jetzt bleibt offen, wer die Aufgaben der UNRWA übernehmen soll. Für Farhat-Naser ist klar: «Die internationale Gemeinschaft muss diese Hilfe übernehmen. Es ist ein Beschluss der UNO, dass die UNRWA für palästinensische Flüchtlinge da sein muss, bis ein unabhängiger Staat Palästina entsteht.»

Schliesslich würden über fünf Millionen Menschen von der UNRWA profitieren. «Wenn 20, 30 oder sogar 100 Mitarbeitende an einem Massaker beteiligt sind, rechtfertigt das nicht, ein ganzes Hilfswerk zu verbieten. Das ist eine Kollektivstrafe, und das darf nicht sein.»

Sie setzen sich seit Jahrzehnten für Frieden im Nahen Osten ein, etwa indem Sie Kindern und Jugendlichen zeigen, wie sie Streitgespräche führen und Konflikte ohne Gewalt lösen können. Ist das nicht äusserst naiv angesichts der Extremisten auf beiden Seiten?

Die Extremisten sind entstanden, weil beide Seiten nicht aufeinander zugegangen, sondern voneinander weggetrieben wurden. Es ist wichtig, dass jeder Mensch lernt, Frieden mit sich selbst zu finden – das ist die Grundlage für Frieden mit anderen. Israelis und Palästinenser müssen beide Kompromisse machen und nachgeben. Nur so können am Ende alle gewinnen.

Das Gespräch führte David Karasek.

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Tagesgespräch, 15.11.2024, 13 Uhr ; 

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