Israels Premierminister Benjamin Netanjahu steht wegen seiner Rolle im Gazakrieg unter Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs ICC in Den Haag. Doch Netanjahu wird auch in Israel der Prozess gemacht.
Vordergründig geht es um teure Geschenke für Netanjahu und seine Frau: Champagner, Zigarren und Diamanten. Es geht um Hinterzimmerdeals mit Geschäftsleuten und Medienunternehmern, denen Vorteile gewährt wurden, wenn sie positiv über die Netanjahus berichteten.
Letztlich aber steht dieser Korruptionsprozess am Anfang der tiefen politischen Krise, in der sich der Staat Israel befindet. Das sagt der bekannte israelische Fernsehmoderator Raviv Drucker.
Nie wäre Netanjahu eine Koalitionsregierung mit den Rechtsextremen eingegangen, wenn es diesen Prozess nicht gäbe.
«Die Anklage Netanjahus war der Motor, der Ursprung, der uns zu dem Punkt geführt hat, an dem wir heute sind», führt der Investigativjournalist aus. Ohne den Prozess hätte Netanjahu die Justizreform nie lanciert, die monatelang Hunderttausende Protestierende auf die Strassen trieb. «Und nie wäre er eine Koalitionsregierung mit den Rechtsextremen eingegangen.»
Wie viele politische Beobachterinnen und Kommentatoren in Israel ist Drucker davon überzeugt, dass sich Netanjahus Abzweigen nach Rechtsaussen nur so erklären lässt: Nach der Anklage gegen ihn, im November 2019, hätte Netanjahu einfach zurücktreten können – das hatten vor ihm schon andere israelische Premierminister gemacht, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Netanjahu entschied sich anders und klammerte sich an die Macht.
Pakt mit Rechtsaussen
Sein Kalkül: Als viel beschäftigter Regierungschef würde er genügend gute Gründe finden, seinen Prozess immer wieder hinauszuzögern. Um an der Macht bleiben zu können, holte Netanjahu zuvor geächtete rechtsextreme Vertreter der Siedlungsbewegung in die Regierung – mangels Alternativen, weil sich die etablierten Mitte-rechts-Parteien nach Netanjahus Anklage von ihm abwandten.
Israel hat seit Anfang 2023 die rechteste Regierung seiner Geschichte, mit Politikern, von dessen Gunst und Wohlwollen der Premierminister abhängig ist. Das zeigt sich besonders beim Gazakrieg: Eine grosse Mehrheit der Israeli befürwortet ein Abkommen mit der Hamas zur Freilassung der Geiseln und der Beendigung des Krieges. Doch das passt nicht in die Agenda der rechten Siedlerbewegung.
Ob sein Kalkül aufgeht, den Prozess hinauszuzögern, lässt sich noch nicht endgültig sagen. Noch am Sonntag versuchten Mitglieder des Sicherheitskabinetts, Netanjahus Gerichtstermin erneut hinauszuzögern. Die Begründung: Der Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad erfordere die volle Aufmerksamkeit des Regierungschefs.
Bis zu einem Urteil dürfte es so oder so noch Jahre dauern, sagt Drucker. 2016 hat er den Fall aufgedeckt, in dem ein Hollywood-Produzent die Netanjahus mit Champagner, Zigarren und Schmuck beschenkte und dafür unter anderem Steuererleichterungen erhielt.
«Hätte ich damals geahnt, dass die Anklage Netanjahus das Land an diesen Tiefpunkt führen würde – zu einem Krieg an mehreren Fronten, zu einer tiefen Spaltung der Gesellschaft: Dann wäre ich wohl zum Schluss gekommen, dass wir das nicht brauchen», sagt der Journalist rückblickend. «Alle Prinzipien, die mir heilig waren – Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz – all das wirkt klein im Vergleich zu den Gefahren und Schwierigkeiten, die wir in Israel nun Tag für Tag zu gewärtigen haben.»