Darf Mazedonien Mazedonien heissen? Nachdem das Land in dieser Frage 27 Jahre lang mit Griechenland gestritten hat, ist es diese Woche zu einer Einigung gekommen. Das Parlament in Skopje hat dieser Lösung zugestimmt. Die Aufregung ist aber gross: Staatspräsident Gjorge Ivanov will seine Unterschrift verweigern, die Opposition hat die Abstimmung boykottiert – und auch in Griechenland gibt es Widerstand. Ein Gespräch mit Historiker Stefan Rebenich über die Geschichte und ihre Auswirkungen.
SRF News: Nur ein Teil des antiken Makedoniens lag im heutigen Mazedonien. Trotzdem beruft sich das Land auf das kulturelle Erbe. Weshalb?
Stefan Rebenich: Die Mazedonier nehmen, wie auch die griechischen Mazedonier, für sich in Anspruch, in unmittelbarer Verwandtschaft mit den alten Makedonen zu stehen. Eine nationale Identifikationsfigur wie Alexander der Grosse, auf die man sich gemeinsam berufen kann, ist da ideal. Gleichzeitig erinnert er an eine grosse historische Zeit, die auch darüber hinweg helfen kann, dass man zu einer der schwächsten Volkswirtschaften Europas gehört.
Bilden Alexander und die Makedonen also gewissermassen ein Band, das dieses junge heterogene Land zusammenbinden soll?
Das ist einer der ganz zentralen Punkte. Viele dieser Staaten, die sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts von der sowjetischen Hegemonie befreien konnten, versuchen nun wiederum, Gründungsmythen zu entwickeln, um sich eine historische Identität zu geben. Hier entsteht letzten Endes ein Staat, der für sich bewusst in Anspruch nimmt, in Tradition mit dem antiken Makedonen-Reich zu stehen. Dies hat die Griechen wahnsinnig empört, da die Mazedonier in ihren Augen alles Slawen sind. Diejenigen, die seit dem sechsten Jahrhundert nach Christus dort eingewandert sind, dürfen sich ihrer Ansicht nach nicht so bezeichnen.
Mazedonien gab sich am Anfang eine Flagge, die einen 16-strahligen Stern zeigt, und Griechenland regte sich wahnsinnig darüber auf. Warum?
Es geht um den sogenannten Streit um den Stern von Vergina. Anfang der 1970er-Jahre hat ein bedeutender griechischer Archäologe in Nord-Griechenland Herrscher-Gräber ausgegraben. Das prächtigste und grösste Grab mit einer Larnax, einem Sarg, hat er Philipp II. zugewiesen, dem Vater von Alexander dem Grossen. Dieser Sarg trug eben diesen Stern. Damit wurde der Stern zum monarchischen Symbol der makedonischen Herrschaft im vierten Jahrhundert vor Christus erklärt.
Und dieses Symbol wirkt nun als Identifikation stiftendes Merkmal in einer Region, die ökonomische, politische und soziale Probleme hat. Nur wollten die Griechen das Symbol für sich haben. Es war wahrscheinlich gar kein monarchisches Symbol. Eher ist es eine Verzierung, wie wir sie auch in ganz anderen kulturellen Kontexten finden. Die Griechen empfanden es aber als Provokation, dass die Flagge, die sich die neue Republik Mazedonien zulegte, letztlich das von ihnen in Anspruch genommene Symbol des griechischen Makedoniens aus der Antike war.
Die Griechen hatten das Gefühl, ihnen werde ein Teil ihrer Kultur gestohlen?
Ja. Deshalb sind sie bis zur Weltorganisation für geistiges Eigentum vorgedrungen und haben versucht, die Exklusivrechte an diesem Stern für sich zu beantragen.
Griechenland braucht diese nationalen Mythen, die das krisengeschüttelte Land zusammenhalten sollen.
Auf Aussenstehende wirkt das komisch. Aber für Griechenland war das bitterer Ernst; so verhinderte das Land, dass Mazedonien der EU oder der Nato beitritt.
Es ging sogar noch weiter. Griechenland hatte 1994/1995 ein Handelsembargo über die Republik verhängt, was in der Tat zu grossen wirtschaftlichen Problemen führte. Man hat alle Möglichkeiten für sich in Anspruch genommen, Druck auf die Bündnisparteien in der Nato und der EU auszuüben. Erst als die Mazedonen sich bereit erklärten, die Flagge zu verändern, den 16-teiligen Stern in eine achtstrahlige Sonne verwandelten, war Griechenland bereit, die Verhandlungen wiederaufzunehmen.
Nun gab es in Mazedonien bis im letzten Jahr eine konservative Regierung. Unter dieser hat es – bis vor kurzem – so ausgesehen, als würde sich dieser Namensstreit nicht so schnell lösen.
Ja. Auch gerade die Benennung des Flughafens nach Alexander dem Grossen hat in Griechenland wieder enorme Empörung hervorgerufen. Was aber noch einmal zeigt: Letzten Endes braucht auch Griechenland heute diese nationalen Mythen, die das krisengeschüttelte Land zusammenhalten sollen. Und ich denke, das erklärt auch die für uns teilweise nur ironisch zu kommentierenden Aufwallungen um Symbole, die bis vor internationale Gerichtshöfe gebracht werden.
Die Einigung im Namensstreit ist noch nicht in Kraft getreten. In Mazedonien muss nicht nur das Parlament, sondern auch noch das Volk zustimmen. Ist die Sache schon in trockenen Tüchern?
Ich denke nicht, dass angesichts der hier wie dort angespannten politischen und ökonomischen Situation die Sache zur Ruhe kommen wird. Historiker sind immer schlechte Propheten. Aber dieser nun seit 1991 schwelende Konflikt wird nicht von heute auf morgen vergessen werden.
Historiker sind immer schlechte Propheten.
Und selbst wenn man sich jetzt auf den neuen Namen Nord-Mazedonien einigt, denke ich, werden Verlierer in Mazedonien und in Nord-Griechenland übrigbleiben, weil ihnen diese Einschränkung durch eine geografische Präzisierung zu weit geht. Dort sind heute teilweise Inschriften zu lesen: «Makedonien ist griechisch». Und der Totalitätsanspruch, dieses Gebiet mit dem antiken Makedonien gleichzusetzen, ist nach wie vor in vielen Köpfen drin.
Das Gespräch führte Andrea Christen.