Die Nato steckt in der Krise. China und Russland treten als Widersacher immer forscher auf. Gleichzeitig wachsen die Spannungen innerhalb der westlichen Militärallianz. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bescheinigte der Nato gar den «Hirntod». Worauf die Allianz eine «Reflexionsgruppe» einsetzte, geleitet von einem US-Diplomaten und vom früheren deutschen Verteidigungs- und Innenminister Thomas de Maizière.
SRF News: Wie sehen Sie Macrons «Hirntod»-Vorwurf an die Nato – als ärgerliche Provokation oder als nötigen Weckruf?
Thomas de Maizière: Ich mache einen Kompromiss. Das war ein nötiger Weckruf. Und es war zugleich eine Provokation, die nun zu einem konstruktiven Resultat geführt hat. Es ist zwar ungewöhnlich, dass Staatspräsidenten so provozieren, aber in dem Fall war es hilfreich.
Das Ergebnis ist ein Bericht mit 138 Reformvorschlägen. Was ist die Stossrichtung?
Es geht einerseits um die veränderte Weltlage, anderseits um das Verhältnis der Nato-Partner untereinander. Das letzte strategische Konzept der Nato ist zehn Jahre alt. In diesem wurde Russland als Partner beschrieben. Das Wort China kam nicht vor; die neuen Technologien spielten noch keine grosse Rolle. Die Nato braucht also ein neues strategisches Konzept. Und im Binnenverhältnis der 30 Mitglieder ist die Willensbildung etwas eingefrostet, zu ritualisiert und nicht lebendig genug.
Ein Vorwurf lautet, die Nato entscheide viel zu langsam. Was raten Sie da?
Der Vorwurf ist nur zum Teil berechtigt. Als die Nato nach den Terroranschlägen von 9/11 auf New York den Bündnisfall ausrief, hat das keine 24 Stunden gedauert. In anderen Fällen dauert es tatsächlich zu lang. Das liegt auch am Konsensprinzip.
Müsste das Einstimmigkeitsprinzip aufgeweicht werden?
Nein. Wir haben das lange diskutiert. Aber den Bündnisfall ausrufen sollten wir grundsätzlich nur einstimmig. Das setzt aber voraus, dass nicht jeder auf seiner Meinung beharrt. Deswegen schlagen wir die Stärkung des Nato-Generalsekretärs vor. Und die Möglichkeit, dass künftig einige Nato-Mitglieder etwas machen können, ohne dass alle gezwungen sind, mitzumachen. Auch sollen Blockade-Vetos künftig erst auf Ministerebene möglich sein.
Wird die Nato häufiger als «Koalition der Willigen» funktionieren?
Den Begriff vermeiden wir wegen der negativen Erinnerungen aus dem Irak-Krieg. Es soll so sein, dass alle einen Einsatz unter dem «Nato-Chapeau», gutheissen, aber nicht alle zwingend mitmachen müssen. So können wir rascher beschliessen, ohne stets auf das langsamste Pferd im Stall zu warten.
So können wir rascher Beschlüsse fassen, ohne stets auf das langsamste Pferd im Stall zu warten.
Neu soll nun China in der Nato-Strategie vorkommen. Wie genau?
Wir wollen nicht, dass die Nato von einem transatlantischen Bündnis zusätzlich zu einem indopazifischen wird. Das würde den Bogen überspannen. Aber die Nato muss erkennen, dass China nun eine Weltmacht mit globalem Führungsanspruch ist. Und dass auch Nato-Territorium bedroht werden kann, etwa durch Interkontinentalwaffen. Dazu gibt es weichere Formen der Einflussnahme, etwa über den Zugriff auf westliche Infrastruktur. Die Nato braucht ein Konzept für den Umgang mit China und eine enge strategische Partnerschaft mit Demokratien in der Region.
Russland galt nach dem Ende des Kalten Krieges für die Nato als Partner. Wie soll die Allianz in Zukunft Russland begegnen?
Wir schlagen einen Doppelansatz vor – Abschreckung und Dialog. Also eine glaubwürdige Abschreckung in allen Bereichen, vom konventionellen bis zum nuklearen. Gleichzeitig wollen wir den Nato-Russland-Rat stärken und so den Dialog anbieten.
Russland bleibt die Hauptbedrohung für die Nato.
Wir glauben, dass es Gesprächsmöglichkeiten bei Rüstungskontrolle, neuen Technologien, künstlicher Intelligenz oder Nutzung des Weltraums gibt. Als Nato müssen wir uns zugleich mit hybriden Bedrohungen durch Russland intensiver beschäftigen – etwa Schein-Milizen oder Cyberangriffe. Russland bleibt die Hauptbedrohung für die Nato.
Wie werden die Reformvorschläge aufgenommen?
Das Echo ist sehr positiv. Allerdings haben vor allem kleinere Staaten Bedenken, weniger Einstimmigkeits-Entscheidungen vorzusehen. Die empfohlene Haltung zu Russland finden einzelne als zu hart, andere als zu weich.
Wir sollten die Nato auch als ein streitig diskutierendes sicherheitspolitisches Forum verstehen.
Sie hoffen also, dass alle mitziehen – obschon die Nato zurzeit einige problematische Mitglieder hat?
Ich hoffe schon. Wir hatten einen sehr respektierten Vertreter der Türkei in der Reflexionsgruppe. Und diese hat den Bericht einstimmig verabschiedet. Bei 30 Mitgliedstaaten sind die Interessen unterschiedlich. Wir sollten die Nato auch als streitig diskutierendes sicherheitspolitisches Forum verstehen. Da kann sie eine neue Rolle finden.
Ich glaube, es wird (ohne Trump) schwieriger werden, die Forderungen der USA abzulehnen.
Wird es mit den USA unter Präsident Joe Biden einfacher?
Die Antwort wird viele überraschen: Ich glaube, es wird schwieriger werden. Bisher konnten die Europäer vieles ablehnen, weil es von Trump kam. Doch wenn nun ein Freund der Allianz genauso sagt, wir müssten China ins Auge nehmen und mehr für die eigene Sicherheit tun, können wir nicht mehr einfach sagen, wir finden das nicht so gut. Die Grundlinie der US-Sicherheitspolitik bleibt gleich, aber der Ton ändert sich – das macht es für uns angenehmer, aber auch schwieriger.
Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.