In letzter Minute fand sich noch ein Überraschungsgast auf dem Nato-Verteidigungsministertreffen in Brüssel ein: der ukrainische Staatspräsident Wolodimir Selenski. «Wir brauchen mehr Unterstützung – deshalb bin ich hier», machte er inständig klar.
Die Bisherige reicht nicht. Und ist ausserdem in Gefahr. Durch Ukraine-Müdigkeit in vielen Ländern, durch absehbare politische Verschiebungen in etlichen Hauptstädten und nun nicht zuletzt wegen der massiven Hamas-Terrorattacke gegen Israel.
Neue Zusagen sind beträchtlich
Ihretwegen wird in der Prioritätenliste Russlands Krieg gegen die Ukraine abrutschen. Ressourcen, vor allem militärische der USA, dürften zu ihren Ungunsten umgeleitet werden. Dabei klingt vieles auf dem Nato-Treffen ganz gut. Bloss klaffen Töne und Taten inzwischen deutlich auseinander.
Gewiss: Die USA versprachen Selenski heute Luftverteidigungsmittel, Artillerie und Antidrohnenwaffen für weitere 200 Millionen Dollar. Deutschland sagt Panzer und Luftabwehr für insgesamt gar eine Milliarde Euro zu. Grossbritannien legte ein 100-Millionen-Pfund-Hilfspaket auf den Tisch. Neue Zusagen machten auch Dänemark, Rumänien und andere. Das ist nicht nichts.
Kampfflugzeuge aus Belgien ab 2025 – wohl zu spät
Gleichzeitig wird immer offenkundiger, dass die Ukraine nicht die nötigen Waffen erhält, um Russland entscheidend zurückzuschlagen. Ein Beispiel: Die gerade jetzt für die Wiedereroberung der Schwarzmeerküste bei Mariupol benötigten Taurus-Marschflugkörper mag Deutschland weiterhin nicht liefern. Und fast schon zynisch wirkt es, wenn Belgien F-16-Kampfflugzeuge verspricht – ab 2025. Dann mag es für die Ukraine zu spät sein.
Die Zurückhaltung ist gross, obschon alle sehen, dass die Ukraine bei ihrer Gegenoffensive im Süden kaum vorankommt und weiter nördlich – worüber im Westen kaum berichtet wird – unter enormen russischen Druck gerät.
US-Wahlen als grosse Unsicherheit
Da klingen die repetitiven Beteuerungen hohl, man unterstütze Kiew so sehr und so lange wie nötig. Besonders damit hervortaten sich die Amerikaner: ihr Verteidigungsminister, ihre Nato-Botschafterin. Sie und ihr oberster Chef, Präsident Joe Biden, meinen es zwar ernst. Doch nächstes Jahr sind Wahlen – wie also halten es ihre möglichen Nachfolger? Schon jetzt wenden sich weite Teile der Republikaner von der Ukraine ab.
Voriges Jahr in Madrid und diesen Sommer in Vilnius erlebte die Nato zwei der erfolgreichsten Gipfel ihrer Geschichte. Und nach dem russischen Überfall erlebte das Bündnis in fast allen Mitgliedsländern einen Popularitätsschub sondergleichen.
Der Hilferuf von Selenski
Doch die Einigkeit scheint wenig nachhaltig. Die Differenzen wachsen. So spielt Ungarns Regierung immer unverfrorener des Kremls trojanisches Pferd in der Nato. Mit der künftigen Regierung in der Slowakei dürfte sich diese anschliessen. Womöglich auch Montenegro, wo eine pro-serbische Partei mit ans Ruder gelangt. Sogar Polen, bisher treuer und einflussreicher Unterstützer, wankt und irritiert mit einem üblen Zwist zwischen Regierung und Generalität.
Um die Unterstützung der Ukraine sieht es längst nicht so gut aus, wie viele auf dem Nato-Treffen vorgeben. Selenskis Überraschungsbesuch ist nichts anderes als ein Hilferuf.