Seit gut einem Monat ist die Schachwelt in Aufruhr: Schlüsselfiguren sind der amtierende Schachweltmeister, der 31-jährige Magnus Carlsen, und ein aufstrebendes Jungtalent, der erst 19-jährige US-Amerikaner und Grossmeister Hans Niemann.
Carlsen bezichtigt Niemann des Betrugs. Vor zwei Wochen brach er deswegen sogar eine Partie gegen seinen Herausforderer ab – nach dem ersten Zug.
Unterstützung erhält der Weltmeister von einer Untersuchung durch die Online-Plattform chess.com. Der 72-seitige Bericht kommt zum Schluss, dass Niemann vermutlich bei über hundert Online-Schachpartien geschummelt und nur dank Computerhilfe gewonnen hat.
Um zu ihrem Verdikt zu kommen, hat die Online-Plattform umfangreiche Datenauswertungen vorgenommen. «Dabei lassen sich Unregelmässigkeiten erkennen und auch, wenn jemand genau so spielt wie die besten Computer oder sogar wie ein bestimmtes Computerprogramm», sagt der Internationale Schachmeister Richard Forster.
Letztlich seien dies aber nur Indizien und keine Beweise. Niemann hat bereits zugegeben, zweimal als Teenager im Alter von zwölf und 16 Jahren bei Online-Partien betrogen zu haben, nie jedoch in Präsenz am Schachbrett.
Doch wie funktioniert Schummeln beim Schach überhaupt? «Letztlich geht es darum, dass man seine eigene Spielkraft verbessert, indem man unerlaubte Hilfsmittel beizieht. Nämlich Schachprogramme, von denen die besten mittlerweile viel stärker als der Weltmeister spielen», erklärt Forster.
Der Hauptfaktor für die Überlegenheit der Maschine gegenüber dem Menschen liegt in der gestiegenen Rechenkraft heutiger Computer. «Diese hat sehr vieles ermöglicht, was früher nur theoretische Modelle waren.»
Zug um Zug schaffe es die Software heute, die «Explosion an kombinatorischen Möglichkeiten» vorauszuberechnen – und das sehr viel schneller und weiter als der menschliche Kontrahent. «In der Vergangenheit hatten die Programme grosse Mühe, am Ende dieser Variantenbäume ein gutes Urteil zu fällen.»
Je besser die Spieler, umso unwahrscheinlicher wird Betrug. Denn ein professioneller Spieler riskiert seine Lebensgrundlage, wenn er auffliegt.
Es lässt sich nur schwer abschätzen, wie verbreitet solche Betrügereien sind. Bei Amateuren sei die Verlockung gross, auf technische Hilfsmittel zurückzugreifen, so der Schachmeister. «Je besser die Spieler, umso unwahrscheinlicher wird Betrug. Denn ein professioneller Spieler riskiert seine Lebensgrundlage, wenn er auffliegt.»
Bei Turnieren, bei denen die Spieler vor Ort gegeneinander spielen, ist Betrug ungleich schwieriger. Bei internationalen Turnieren werden die Spieler in der Regel wie am Flughafen durchleuchtet. «Sie werden am Eingang auf Elektronik wie versteckte Empfänger im Ohr kontrolliert», so Forster. Der Aufwand, diese Hürden zu umgehen, sei beträchtlich.
Intellektuelle Höhenflüge mit «Computer-Doping»
Anders als etwa in der Leichtathletik wird man durch «Computer-Doping» nicht nur etwas besser. «Damit hat man die Möglichkeit, viel besser als der Weltmeister zu spielen. Wenn das jemand macht, fliegt er sofort auf.» Betrügen will also gelernt sein, und es bedarf des ein oder anderen allzu menschlichen Schachzugs, um keinen Verdacht zu erregen.
Und doch, schliesst Forster mit einer philosophischen Note: «Ich bin überzeugt, dass der menschliche Geist immer gieriger wird. Vor allem, wenn er sieht, wie einfach es möglich ist, zu betrügen. Irgendwann überschreiten die meisten die Grenze und fliegen auf.»