Rauch hängt über den Strassen Santiagos und mischt sich in die wütenden Rufe der Demonstrierenden, die nicht aufgeben wollen: Die Ungleichheit in der Bevölkerung Chiles führte Ende 2019 zu viel Wut und massiven Protesten. Allein in der Hauptstadt gingen fast anderthalb Millionen Menschen auf die Strasse. Während Wochen. Die Demonstrierenden forderten weitreichende soziale Reformen. Im Zentrum der Kritik: Chiles aktuelle Verfassung.
Denn die bisherige stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur von General Augusto Pinochet. 1973 brachte er Chiles Wirtschaft auf einen neoliberalen Kurs. Heisst: In der Folge bestimmte allein der Markt das Leben der Chileninnen und Chilenen. Pinochet reduzierte staatliche Eingriffe auf ein Minimum und privatisierte praktisch alles: die Renten, das Gesundheitssystem, sogar die Wasserversorgung.
Wasser als Grundrecht
Besonders die Privatisierung des Wassers schürte viel Unmut in der Bevölkerung. Das Beispiel von Luis Manzano zeigt die Absurdität des Lebens eines Kleinbauers.
Manzano gräbt mit seiner Schaufel ein Loch für einen Teich. Das ist aussichtslos, es herrscht seit etwa 10 Jahren Dürre hier in Zentralchile, es regnet praktisch nie. Wir sind in der Kleinstadt Putaendo, eine Stunde von der Hauptstadt Santiago entfernt.
Die Region leidet unter Wassermangel. Der Klimawandel verschärft diesen noch. Luis Manzano hofft trotzdem auf ein paar Tropfen. Verständlich, wenn man hört, wie wenig Wasser er von der Stadtverwaltung erhält. «12 Minuten, alle acht Tage.» Sagt Luis Manzano wütend. «Mit dem kann ich zwei Bäumchen giessen.»
12 Minuten Wasser, alle acht Tage.
Alle acht Tage darf der Kleinbauer 12 Minuten lang Wasser verwenden. Mehr Wasser gibt’s nicht - höchstens gegen Bezahlung. Die Preise für die vollen Wasserbehälter sind aber im Vergleich zu letztem Jahr um 70 Prozent gestiegen. Das kann sich der Kleinbauer nicht leisten. 40 seiner Kühe sind schon verdurstet.
Mine darf Grundwasser abpumpen
Für diese Wasserknappheit ist nicht nur der Klimawandel verantwortlich: 20 Kilometer von Manzanos Bauernhof entfernt, entsteht eine der modernsten Kupferminen Chiles. Die Behörden haben kürzlich einem kanadischen Bergbauunternehmen die Genehmigung dafür erteilt. Die Mine wird, wenn sie fertig gebaut ist, 300 Liter Wasser pro Sekunde brauchen. Die Mine darf Grundwasser abpumpen oder Wasser von Flüssen in der Region abzweigen.
Hast du Geld in Chile, hast du Wasser. Hast du keins, dann hast du Durst.
Wasser sollte ein Menschenrecht sein und kein Geschäft, sagt Kleinbauer Luis Manzano. «Ich bin so wütend. Hast du Geld in Chile, hast du Wasser. Hast du keins, dann hast du Durst.»
Denn Chile öffnete das Land auch für ausländische Investoren, etwa im Bergbau-Bereich. Unternehmen aus der ganzen Welt durften in Chiles Bodenschätze investieren, sie nutzen und exportieren. Die Folge: Das Durchschnittseinkommen in Chile ist seit den 1980er-Jahren so schnell gestiegen wie in keinem anderen Land Südamerikas.
Riesige Kluft zwischen Arm und Reich
Aber der Wohlstand ist heute sehr ungleich verteilt. Die reichsten 10 Prozent der Chileninnen und Chilenen verdienen 26-mal so viel wie die ärmsten. Das ist eine der grössten Einkommensscheren aller OECD-Staaten, Chile ist Mitglied der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Auch im südamerikanischen Vergleich ist die Kluft zwischen Arm und Reich in Chile riesig.
Unter dem Druck der Proteste willigte die Regierung im Oktober 2020 in eine historische Abstimmung ein: Eine überragende Mehrheit der Wählerinnen und Wähler, 80 Prozent, sprachen sich dabei für eine neue Verfassung aus.
Bevölkerung will gerechte Verfassung
Der Verfassungskonvent hat letzten Sommer die Arbeit aufgenommen. Im alten Kongressgebäude in der Innenstadt von Santiago schreiben die Delegierten die neue Verfassung für Chile.
Ziel der Verfassung ist es, die einfachsten Dinge des Lebens zu ändern. Zum Beispiel, dass man nicht für alles bezahlen muss.
Die indigene Sprachwissenschaftlerin Elisa Loncón leitete bis vor zwei Monaten den Verfassungskonvent. Sie sagt zu SRF News: «Ziel der Verfassung ist es, die einfachsten Dinge des Lebens zu ändern. Zum Beispiel, dass man nicht für alles bezahlen muss. In Chile muss man für alles bezahlen. Für uns ist klar, dass der Staat sich zu wenig um die Menschen kümmert. Und das will die Verfassung ändern. Es gibt eine Krise der Grundrechte.» Sagt Loncón.
154 Delegierte schreiben die neue Verfassung, sie wurden von der Bevölkerung dafür auserkoren. Es ist der einzige Verfassungsrat der Welt, mit gleich vielen Frauen und Männern. Die indigenen Völker sind mit 17 Sitzen vertreten.
Im Verfassungsrat haben Linke, Linksliberale und Unabhängige die Mehrheit. Die rechten und konservativen Parteien haben bei der Wahl in den Verfassungsrat derart schlecht abgeschnitten, dass ihre Delegierten wenig Einfluss auf das Grundgesetz haben.
Vorschläge aus der Bevölkerung
Die Bevölkerung konnte bis Anfang Februar Themen einreichen, welche ihrer Meinung nach in die neue Verfassung gehören. Auch kaum mehrheitsfähige Vorschläge, wie zum Beispiel der Wunsch, ganz Chile soll vegan leben. 80 solcher Vorschläge aus der Bevölkerung werden nun im Plenum diskutiert. Diese erreichten die erforderlichen 15'000 Unterschriften.
Jeder einzelne Verfassungsartikel muss am Schluss von zwei Drittel der Delegierten gebilligt werden, ansonsten schafft er es nicht in die Endfassung.
Wenn die neue Verfassung nicht wirtschaftsfreundlich wird, dann wird das eine Katastrophe für das Land.
Es steht viel auf dem Spiel
Juan Sutil ist Direktor des chilenischen Wirtschaftsdachverbandes. Dieser repräsentiert die Bergbauunternehmen, die Agrarindustrie, überhaupt die gesamte Wirtschaftselite Chiles. Er sieht die Gefahr, dass mit einer neuen Verfassung, wichtige Errungenschaften verloren gehen könnten. Denn Chile sei ein äusserst erfolgreiches Land, das würden alle wirtschaftlichen Indikatoren zeigen.
Sutil warnt: «Wenn die neue Verfassung nicht wirtschaftsfreundlich wird, dann wird das eine Katastrophe für das Land, Chile wird durchschnittlich werden. Das Land wird an Prestige und Entwicklung verlieren.»
Trotzdem: Juan Sutil hat den Wirtschaftsdachverband in den letzten Monaten neu positioniert. Er kämpft nicht mehr gegen die neue Verfassung, sondern will bei einigen Themen aktiv mitreden, um, wie er selbst sagt, schlimmeres zu verhindern. Kürzlich wurde er vom Verfassungskonvent zu gemeinsamen Gesprächen eingeladen.
Die Verfassung muss sozial sein, aber auch das Unternehmertum einbeziehen.
Es sei wichtig zu verhandeln, sagt die Verfassungsrechtlerin und Politologin Paz Milet von der Universidad de Chile. «Eine neue Verfassung erzeugt immer Unsicherheit. Es muss darum eine Koexistenz zwischen den verschiedenen Mächten geben. Die Verfassung muss sozial sein, aber auch das Unternehmertum einbeziehen. Das grosse Risiko besteht darin, dass sich der Verfassungskonvent nur auf die Ausweitung der sozialen Rechte konzentriert. Aber diese Rechte müssen auch bezahlt werden.»
Neue oder bestehende Verfassung?
Bis im Juli muss die Verfassung fertig geschrieben sein, danach kommt es zu einer Volksabstimmung. Wenn die neue Verfassung abgelehnt wird, bleibt die bisherige aus der Militärdiktatur in Kraft.
Die Zukunft Chiles für die kommenden Jahre stehe auf dem Spiel, sagen derzeit viele im Land. Das kann auf unterschiedliche Weise ausgelegt werden.